STRESSLEVEL FÜR LEHRERINNEN WÄCHST UND WÄCHST

KRISEN WIE DIE PANDEMIE ODER DER UKRAINEKRIEG FORDERN OPFER, SORGEN IHRERSEITS FÜR PSYCHISCHE KRISEN. NICHT NUR IN DEN FAMILIEN, BEI KINDERN UND ELTERN. GANZ BESONDERS AUCH UNTER LEHRERINNEN, BEI DENEN DIE ZAHL DER BURNOUTS DRASTISCH STEIGT. DAS BESTÄTIGT FRITJOF NELTING, BETREIBER VON FÜNF PSYCHOSOMATISCHEN KLINIKEN

Lehrer werden oft von den Anforderungen überwältigt Bild Getty Images

In Ihre psychosomatischen Kliniken kommen verstärkt LehrerInnen. Was ist die Vermutung, warum so viele Lehrkräfte ausgebrannt sind?

Nelting: Es gibt eine Reihe von Faktoren, die es LehrerInnen nicht immer ganz einfach machen, gesund in ihrem Beruf zu bleiben. Das beginnt bereits bei der Berufswahl. Wenn ein Mensch sich dafür entscheidet, LehrerIn zu werden, dann stellt der Grund für diese Entscheidung häufig bereits gewisse Weichen für die Zukunft. Wurde der Beruf gewählt, um sich selbst möglichst abzusichern oder um zum Beispiel dem Wunsch der Eltern zu entsprechen? Oder wurde der Beruf gewählt, weil man gerne mit Kindern arbeiten möchte und Wissen (vielleicht auch Weisheit) teilen möchte? Weder die eine noch die andere Entscheidung dabei hat per se etwas mit einer ausgebrannten Lehrkraft zu tun. Es zeigt aber, dass sich in dieser Welt sehr unterschiedliche Charaktere zusammenfinden, was durchaus zu Spannungen führen kann, und dass die Lehrkräfte teilweise unterschiedlichen Stressoren ausgesetzt sind. In unseren Kliniken behandeln wir zu meinen viele LehrerInnen, die ausbrennen, weil sie sich in so hohem Maße engagieren, dass die Belastung dauerhaft zu groß wird. Zum anderen behandeln wir LehrerInnen, die den vielen Stressoren im System zunehmend hilf- und orientierungslos gegenüber stehen.

„Laute Kinder waren schon immer mögliche Stressoren, die bei Lehrerinnen Begleiterscheinungen wie Tinnitus oder Hyperakusis (Geräuschüberempfindlichkeit)auslösen konnten“.

Neben altbekannten Stressoren sind darüber hinaus in den letzten Jahren noch einige neue hinzugekommen. Laute Kinder waren schon immer mögliche Stressoren. Allerdings gibt es mittlerweile neben dem normalen, lauten Kind auch noch zunehmend viele Kinder, die sich selbst in psychischen Krisen befinden und die im Umgang mit sich selbst, ihren Familien und eben auch den Lehrerinnen eine große Herausforderung darstellen können. Häufig wird der Umgang mit psychisch auffälligen Kindern als der herausforderndste beschrieben. Oft sind auch die Familien dieser Kinder hoch belastet, was den Umgang und die Kommunikation deutlich erschweren kann. Außerdem leben wir in Zeiten großer Migrations-und Fluchtbewegungen, was die Kommunikation noch zusätzlich erschweren kann. Viele LehrerInnen fühlen sich Kritik der – häufig auch überlasteten – Eltern ausgesetzt, und es entstehen leicht Spannungen. Durch die Digitalisierung sind ebenfalls neue Stressoren hinzugekommen. Neben der bekannten Herausforderung, digitale Angebote in die Schulen zu integrieren und den Umgang mit neuen Medien zu erlernen, möchte ich hier z. B. Cybermobbing nennen, womit sich Kinder und LehrerInnen zunehmend auseinandersetzen müssen.

Cybermobbing ist eine große Belastung für alle Beteiligten und kann oft nicht gut aufgelöst werden.

Weiter kennen wir OberstufenlehrerInnen mit sich entwickelnden Angst- und Panikerkrankungen – aufgrund der Sorge, von den Kindern mit Mobiltelefonen abgehört bzw. aufgezeichnet zu werden (häufig, um den Eltern zu beweisen, dass eine Lehrkraft etwas Regelwidriges getan hat). Dies wird für die LehrerInnen zu einer Art gefühltem Panoptikum, also der Möglichkeit, jederzeit abhörbar und einsehbar zu sein, was den Stress-Level deutlich erhöht und die eigene Freiheit und Kreativität stark einschränkt.

Was muss sich bei der Betreuung von Kindern und Familien ändern, um die mentale Gesundheit an Schulen zu verbessern?

Zunächst sollte der Auftrag der Lehrerinnen immer wieder deutlich kommuniziert und auch abgegrenzt werden. Sie haben in der Tat einen sehr breit gefassten Auftrag, und sie sollen die Kinder in ihrer Entwicklung auf allen Ebenen begleiten. Allerdings wird von LehrerInnen häufig erwartet, dass sie die gesamte Basis für die Kinder legen, was schlichtweg nicht möglich ist und initial von den Eltern übernommen werden muss. Wenn ein Kind im häuslichen Umfeld keine gute Basis erhält, also sowohl körperlich als auch psychisch, dann kann eine Lehrkraft dies in der Regel nur in Nuancen zum Positiven ändern. Wenn Kinder zu Hause schlechte Nahrung zu sich nehmen und sich nicht ausreichend bewegen, wenn sie nicht lernen zu lieben und zu vertrauen und wenn sie einen großen Teil ihrer häuslichen Zeit mit (digitalem)Konsum verbringen, dann sind große Herausforderungen im weiteren Leben meistens vorprogrammiert. LehrerInnen können dies nur sehr bedingt korrigieren. Gleichzeitig können sie aber, wenn sie nicht verantwortungsvoll handeln und die Bedürfnisse der Kinder nicht verstehen und in bestmöglichem Maße würdigen, großen Schaden anrichten. In unseren Seminaren mit Lehrer*innen zeigt sich, dass diese Herangehensweise trotz großem äußeren Drucks deutlich entlastet.

„Wenn die Lehrkräfte in der Lage sind, die Situationen der Kinder besser einzuordnen, dann wird sich die Qualität der Kommunikation und Begleitung der Kinder und ihrer Eltern verbessern.“

Wichtig ist zum einen die gute Weiterbildung von Lehrkräften in Bezug auf psychologische Themen in Verbindung mit einer Stärkung von SchulpsychologInnen und Sozialarbeiter-Innen. Wenn die Lehrkräfte in der Lage sind, die Situationen der Kinder besser einzuordnen und natürlich auch mit ExpertInnen zu besprechen, dann wird sich zum einen die Qualität der Kommunikation und Begleitung der Kinder und ihrer Eltern verbessern. Gleichzeitig wird aber auch der zweite Aspekt gefördert, und dieser betrifft die Selbstfürsorge der Lehrkräfte. Wenn ich die Situation der Kinder und Familien besser verstehe, kann ich zum einen angemessener handeln und werde sicherer im Umgang mit Krisensituationen. Zum anderen kann ich aber auch klarer Grenzen ziehen und Verantwortung abgeben, denn nicht alle Konflikte können von Lehrerinnen gelöst werden.

Wie wesentlich kann psychologische Betreuung sein?

Sie kann den Unterschied ausmachen zwischen nachhaltiger Bewältigung von Krisen und dem Beginn von chronischen Erkrankungen, die wiederum transgenerational weitergegeben werden können. Wir müssen den Blick hier weit fassen und dürfen uns nicht nur um die gegenwärtige Situation kümmern. Wir stehen aktuell vor einer neuen Generation von Menschen. Einer Generation, die digitale Medien ihr Leben lang als ihre Begleiter, häufig sogar als „digitale Nanny“ hatte. Und sie ist – und das wird häufig vergessen – die erste Generation von Kindern, deren Eltern ebenfalls überwiegend mit dem Handy in der Hand leben. Aktuell beschäftigt sich die Forschung rund um Spiegelneuronen (Spiegelneuronen scheinen für die Interpretation von Emotionen, Gesten und Gesichtsausdrücken von anderen Menschen notwendig zu sein) mit der Frage, inwieweit sie nur beim direkten Kontakt mit anderen Menschen ausreichend ausgebildet werden. Offensichtlich scheint die Ausbildung der Spiegelneuronen beim Konsum digital dargestellter Körper, Gesichter und Gesten nicht in dem Maße angeregt zu werden, wie es bei Kontakt mit realen Menschen in der analogen Welt der Fall ist. Und gleichzeitig sind die Reaktionen der Eltern in vielen Fällen gemindert, da die Eltern ebenfalls durch digitale Medien abgelenkt sind und den Kindern damit keine adäquaten Eindrücke vermitteln. Bei verminderter Ausprägung von Spiegelneuronen könnte sich eine große Herausforderung ergeben, Empathiefähigkeit zu entwickeln.

Die psychologische Begleitung wird also in immer größerem Maße von Bedeutung sein.

Dadurch werden Konflikte häufiger, und die psychischen Belastungen können potenziell zunehmen. Die psychologische Begleitung wird also in immer größerem Maße von Bedeutung sein. Allerdings kann eine angemessene Betreuung in Deutschland derzeit kaum sichergestellt werden. Es gibt zu wenige Psychologinnen und FachärztInnen, die der großen, uns bevorstehenden Welle von belasteten Kindern und Erwachsenen angemessen entgegentreten könnten. Außerdem sind die meisten Kliniken nicht in der Lage, ihre vollen Potenziale zu entfalten, da es auf den Arbeitsmärkten kaum ausreichend qualifiziertes Personal gibt. Insbesondere PflegerInnen und ErzieherInnen sind zu wenige vorhanden. Wir müssen also alles daran setzen, dass wir zum einen die Eltern in der Basisarbeit unterstützen. Und zum anderen müssen wir einen deutlichen Schwerpunkt auf die Weiterbildung der Lehrerinnen setzen. Gesunde Eltern und gesunde Lehrkräfte sind vermutlich das Beste und Wichtigste, was unseren Kindern passieren kann!

Ein gesunder Körper gehört zu einem ganzheitlich gesunden Schulleben dazu – wie sinnvoll ist die gezielte Förderung sportlicher Aktivitäten?

Bewegung ist eine der wesentlichen Grundlagengesunden Lebens. Nicht umsonst gibt es mittlerweile den Spruch „Sitzen ist das neue Rauchen“. Kinder und Jugendliche mit Diabetes, Übergewicht und motorischen Störungen sind heutzutage die offensichtliche gesellschaftliche Norm. Allerdings entsprechen sie in keiner Weise einer gesunden und nachhaltigen Entwicklung von Kindern. In wenigen Fällen mag es genetische Dispositionen geben, die zu diesen und ähnlichen Erkrankungen führen können, meistens sind es aber ungünstige Verhaltensweisen. Wir sollten also unbedingt einen Fokus auf Sportangebote legen, aber nicht alleinig im Sportunterricht. Auch normaler Unterricht in Bewegung – zum Beispiel im Freien, im Garten oder im Wald –ist ideal, auch für die Konzentrationsfähigkeit der Kinder. Wenn ich in der Grundschule beispielsweise lerne, was 100 oder 1 000 Meter sind, dann könnte die Lehrkraft den Weg einfach mal mit ihren Kindern abschreiten. Viel eindrücklicher kann man sich Dinge gar nicht merken. Ergänzend gibt es – vorwiegend aus der Computerspielewelt übernommen – den Trend des Lernens mittels „Gamification“. Also des Einsatzes von (auch digitalen) Spielen zum Vermitteln von Wissen und Lernstoff. Meiner Meinung nach ist das noch viel zu wenig in den Schulen angekommen, kann aber ideal im Zusammenhang mit Bewegung genutzt werden. Kinder, auch ältere, spielen gerne und lernen über Herausforderungen die Welt kennen.

Gamification könnte beim Vermitteln von Wissen und Lernstoff hilfreich sein.

Wenn sie dann noch im Sinne der Gamification aufeinander aufbauende Herausforderungen lösen können, ergeben sich häufig spannende Entwicklungen. Dies sollte natürlich ohne zu großes Frustpotenzial ablaufen, kann aber Motivation verstärken und sich dann nicht nur im sportlichen Bereich, sondern auch in anderen Bereichen der Schulen widerspiegeln. Aber nicht nur klassische Sportarten wie Fußball, Basketball, Schwimmen können sinnvoll für Kinder sein, sondern auch sportliche Disziplinen, bei denen geistige und körperliche Ebenen gleichermaßen angesprochen werden. Das können zum Beispiel Yoga oder Qigong(Bewegungsmeditation) sein, oder aber auch ganzheitliche Ballsportarten wie Taiji Bailong Ball, die neben einer verbesserten körperlichen Koordinationsfähigkeit auch unseren Ruhenerv, den Parasympathikus, aktivieren und so zu einer verbesserten Ausgeglichenheit beitragen. 

FRITJOF NELTING Mitgründer einer Gruppe von psychosomatischen Kliniken (Gezeiten Haus), Gesundheitscoach, Speaker und Initiator von Neltings Welt(u. a. für Burn-out-Prävention)

INTERVIEW  CHRISTIAN PERSONN