Die Verknüpfung von Bewegung und Lernen: „Schreiben ist wie Fahrradfahren“

Unsere Autorin hat sich auf die Suche gemacht, was Bewegung mit dem Schreibenlernen zu tun hat. Zwei Expertinnen haben ihr bei den Antworten geholfen. 

Die Ausbildung der motorischen Fähigkeiten hat Einfluss auf das Lernen. Foto: Getty Images/eclipse_images

„John malt einfach nicht“, sorgt sich meine Bekannte um ihren Sohn. Ich denke mir bei dieser Bemerkung nicht viel. Jedes Kind ist anders und hat sein eigenes Tempo in seiner Entwicklung. Erst als ich bei der Recherche für diesen Artikel darauf stoße, dass Malen eine Grundlage fürs Schreibenlernen darstellt, werde ich im Nachhinein hellhörig. Ob John, der Kitafreund meines Sohnes, beim Schreiben Schwierigkeiten haben wird, wissen wir noch nicht. Er wird dieses Jahr erst eingeschult. 

Malen als Grundlage fürs Schreiben

Wie John geht es vielen Kindern im Kita- und Grundschulalter. Manche mögen nicht malen, andere können mit fünf Jahren noch keinen Stift richtig halten. Um flüssig schreiben zu lernen, müssen die Kids einige Voraussetzungen erfüllen, erklärt Ergotherapeutin Jutta Junker: „Die Kinder brauchen Ausdauer, Motivation, Wissensdurst, sie müssen sich konzentrieren und Frust aushalten, aber auch ruhig sitzen können.“ Entsprechende Übungen in den Jahren vor Schulbeginn seien eine wichtige Grundlage. Zum Beispiel bereiten regelmäßig durchgeführte Schwungübungen in der Kita oder der Vorschule auf das Schreibenlernen vor.

In der Regel entwickeln Kinder sich zunächst grobmotorisch, später kommen feinmotorische Bewegungen wie auch beim Schreiben dazu. Wer sich ausreichend bewegt, hat in den meisten Fällen im entsprechenden Alter auch eine gute Körperspannung, um für immer längere Zeit sitzen zu können. Dann kommen „genügend Handkraft und eine passende Kraftdosierung, feinmotorische Geschicklichkeit, flüssige Bewegungsmöglichkeiten der Finger-, Hand- und Armmuskulatur“ hinzu, sagt Junker. Dabei ist eine gute Grobmotorik nicht immer ausreichend als Voraussetzung für die Feinmotorik. Junker kennt Kinder, die sich viel und gut bewegen, aber dennoch beim Schreiben Schwierigkeiten haben. 

Übung macht den Meister

Die Ursache dafür liegt häufig darin, dass die Kinder zu wenig Übung haben. „Schreiben ist wie Fahrradfahren“, erklärt Anne Münch, die als Ergo- und Handtherapeutin in München arbeitet: „Beides muss man ausprobieren, oft genug üben und dadurch automatisieren.“ Das ist aber heute nicht immer gegeben.

In Kitas mit freien Konzepten etwa muss nicht jedes Kind jede Woche ein Bild malen oder an Bastelaktivitäten teilnehmen. Wenn die Betreuungspersonen nicht darauf achten, suchen sich dann manchmal gerade jene Kinder, die ohnehin feinmotorische Probleme haben, andere Beschäftigungen und meiden, was ihnen schwerfällt. Das fällt umso leichter, wenn sie keine Vorschule besuchen: „Oft merkt man den Kindern an, wenn sie nicht in der Vorschule waren, weil sie dann noch nicht so sicher mit dem Stift umgehen“, sagt Münch. 

Auch später in der Schule üben die Kinder heutzutage nicht mehr genug, meint Jutta Junker. Viele Wiederholungen seien nötig, um einen Buchstaben wirklich zu verinnerlichen und flüssig schreiben zu können: „Früher wurden Buchstaben in die Luft geschrieben, mit Kreide auf kleine Tafeln, mit dem Finger in den Sand, Buchstaben wurden geknetet. Da haben die Kinder die Buchstaben mit allen Sinnen erfahren.“ Das fehle heute oft völlig. 

Kindern, die viel Zeit am Computer, einer Spielekonsole oder dem Smartphone verbringen, fehle zudem der körperliche Ausgleich. Sie schulen ihre Motorik zu wenig, beispielsweise in handwerklichen Techniken, und könnten laut Junker oft nur am Tisch „hängen“ oder nicht still sitzen. Laut Kollegin Münch weisen diese Kinder auch oft eine unzureichende Körperwahrnehmung auf. Dabei sei diese grundlegend, um mit einem Stift umgehen zu können. 

Spielerisch den Stress rausnehmen

Wie kann man Kindern mit Schreibproblemen also helfen? Junker hat viele Anregungen, mit denen sie bei ihrer ergotherapeutischen Arbeit gute Erfolge erzielt und die Eltern auch zu Hause einsetzen können: „Auf jeden Fall sollte man viele spielerische Elemente einbauen, damit die Kinder Spaß dabei haben. Durch Freude entsteht Motivation. Kneten und mit Wasserfarben Malen macht vielen Kindern Spaß. Man kann Mulden in die Knete drücken und Murmeln oder Steinchen darin verstecken, die die Kinder herausholen sollen. Oder man zerreißt Krepppapier in kleine Schnipsel, formt daraus Kügelchen und klebt sie zu einem Bild auf. Sie können auch kleine Gegenstände aus einem Behälter mit Erbsen oder Linsen herausfischen“, schlägt die Expertin vor. Auch Münch bestätigt, dass anstrengende Übungen – also Schreibübungen und Wiederholungen – immer mit Spielen aufgelockert werden sollten. Beispielsweise könnten Kinder mit Essstäbchen Weintrauben aus einer Schüssel fischen.  

Junker betont, dass Eltern ihr Kind immer dafür loben sollten, wenn es etwas gemalt und sich Mühe gegeben hat. Ein mit Einsatz gemaltes Bild sollte man aufhängen, egal, wie es aussieht – das motiviert. Kinder können auch schon früh in Alltagsaufgaben mit einbezogen werden und zum Beispiel den Tisch decken und sich selbst anziehen. All das schult ebenfalls die Feinmotorik. 

Hilfe annehmen

Manche Kindern verbinden mit dem Schreiben trotzdem vor allem Frust und Ärger. Wenn ein Kind partout keinen Stift in die Hand nehmen will, mit fünf Jahren noch keine feste Händigkeit (links oder rechts) entwickelt hat, die Schrift im ersten Schuljahr nicht lesbar ist, das Kind beim Schreibtempo nicht mitkommt oder ihm beim Schreiben die Finger wehtun, sollten Eltern das Gespräch mit Erziehern oder Lehrkräften suchen. Sinnvoll ist dabei, auch das Kind mit einzubeziehen. 

Oft kann die Kita oder Schule gezielte Übungen und Tipps anbieten, damit die Feinmotorik weiter zu schulen. Genügt das nicht, sollten Eltern nicht scheuen, professionelle Unterstützung zu suchen: Eine Ergotherapeutin oder ein -therapeut kann dabei helfen herauszufinden, wo genau das Problem liegt und welche Übungen dem Kind nützen.

Theresas Erfolgserlebnis

Ein Fallbeispiel aus der Ergotherapie-Praxis von Anne Münch:

Als Erstes mache ich mit Theresa (6, Ende 1. Klasse) und ihrer Mutter eine Anamnese (Befund). Der Mutter ist aufgefallen, dass Theresa den Stift nicht richtig greift, beim Schreiben langsam ist, aber eine schöne Schrift hat. Ich schaue mir Theresas Hefte an und mache eine Schreibprobe. Ich überprüfe ihre Körper-, Sitz- und Stifthaltung und schaue mir ihre Basismotorik und Stiftführung, Schreibmotorik, und Wahrnehmung an. Ich nutze einen digitalen Stift (den „Ergo-Pen“ von Stabilo), der Schreibauffälligkeiten auf eine App überträgt und altersentsprechend auswertet. Er misst die Parameter Stifthaltung, Schreibwinkel, Tempo, Automation und Schreibfrequenz. 

Nach der ersten Stunde ist klar, dass Theresa aufgrund ihrer falschen Stifthaltung die Finger nicht richtig bewegen kann, wodurch sie verkrampft und zu stark aufdrückt. Sie schreibt viel zu langsam. Das liegt daran, dass Theresa die Buchstaben zeichnet, damit sie schön aussehen und perfekt in die Zeile passen. Doch so kann sie das Schreiben nicht automatisieren. Wir machen Übungen zur Stifthaltung und Finger- und Handbeweglichkeit sowie Schwungübungen, zum Teil mit geschlossenen Augen. Zu Hause soll sie jeden Tag zehn bis fünfzehn Minuten spielerisch üben.