Schule in Corona-Zeiten: „Hauptsache geöffnet.“

Was macht eine gute Schule aus? Unsere Autorin hat nach einem guten Jahr mit dem Coronavirus eine pragmatische Antwort auf diese Frage. Und die Erkenntnis tut ihr selbst weh.

In Krisenzeiten kann sich die Vorstellung von einer "guten Schule" schonmal verändern. Foto: Getty Images/Johner Images

Ich komme vom Dorf. Die Frage, welche Grundschule die beste für mich sei, stellte sich nicht. Die kleine, feine Einrichtung direkt neben meinem Elternhaus, in der ich mit genau 8 (!) anderen Kindern eingeschult wurde, war die einzige weit und breit. Ich bin dort immer gern hingegangen, meine Eltern kannten die Lehrer alle persönlich und wenn unsere Klassenlehrerin Frau Carstensen krank war, kam eben eine der Mütter in die Schule und übernahm den Unterricht. Heute lebe ich in der Großstadt – und natürlich ist hier alles anders. 223 Grundschulen gibt es in Hamburg. Und wenn es soweit ist, dass die Einschulung kurz bevorsteht, müssen die Eltern eine Wunschliste mit ihrer „Top 3“ der Einrichtungen abgeben.

Schulwahl

Natürlich haben wir uns schlau gemacht. Oder um ehrlich zu sein: Wir haben uns verrückt gemacht. Welche Schule genießt den besten Ruf? Welche bietet die beste Nachmittagsbetreuung? Welche Einrichtung legt ihren Fokus auf welches Gebiet? Gibt es Sport-, Sprach- und Naturkundeprojekte? Welche Klassenreisen werden angeboten? Schau mal, die hier machen Judo mit den Kids! Und hier gibt es ein Fußball-Förderprogramm. Aber die hier organisieren Vorlese-Tage! Und, und, und … Am Ende einer langen Internetrecherche-Reise kam dann doch ein wenig Dorf-Feeling in das Projekt „Schulauswahl“: Die Grundschule direkt in unserer Straße, keine 400 Meter Fußweg entfernt, erfüllte alle unsere Wunschkriterien. Allen voran das wichtigste: die Betreuungszeiten. Bis 15.30 Uhr geht hier der Regeltag. Kein Kind wird früher abgeholt. Eine längere Betreuung (bis 18 Uhr!) ist aber möglich.

Und damit bin ich beim eigentlichen Thema dieses Textes. Na klar: Die Holzwerkstatt, die Fahrradwerkstatt, die schuleigene Zeitungsredaktion und das Sportkonzept „bewegte Schule“ – all diese Punkte sorgten dafür, dass die Einrichtung in unsere engere Auswahl kam. Wirklich entscheidend aber für uns als berufstätigte Eltern war die Aussicht, dass unser Kind nicht allein auf dem Schulhof wartet, wenn wir mal wieder länger arbeiten müssen. Dass eine Betreuung bis in den Nachmittag die Regel für alle Kinder und nicht die Ausnahme für einige wenige ist. Und dass die Vereinbarkeit von Beruf und Schulzeiten für uns beide, meinen Mann und mich, gewährleistet ist. Es fühlt sich nicht gut an, das zuzugeben. Natürlich würde ich gern schreiben, dass uns das Lehrkonzept wichtiger sei als die Betreuungszeiten. Aber wenn das Pandemie-Jahr 2020 eines offenbart hat, dann genau das: Das Wichtigste an der Schule ist heutzutage ihre Funktion als Betreuungseinrichtung. Sie ermöglicht es uns Eltern, beide weiterzuarbeiten. Seitdem ich im Frühjahr des letzten Jahres wie so viele andere Mütter zuhause zwischen Homeoffice und Homeschooling rotierte, kann ich nicht aufhören über diese eine Sache nachzudenken: Während Eltern noch vor ein paar Jahrzehnten länger arbeiten gegangen sind, um ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen, müssen die Kinder heute jeden Tag möglichst lange in der Schule bleiben, damit die Eltern arbeiten können.

Wie eine Krise unsere Vorstellungen verändert

Ja, das ist pauschal formuliert und natürlich ist es nicht in allen Haushalten so. Aber mal ehrlich: Während des ersten Lockdowns ist mir persönlich keine einzige Familie begegnet, deren Berufsleben durch die geschlossenen Schulen nicht völlig aus der Bahn geworfen wurde. Nein, ich habe natürlich keinen Lösungsvorschlag für dieses Dilemma. Sonst wäre ich längst Politikerin. Aber ich habe den großen Wunsch, dass dieser Zustand sichtbarer wird. Und zwar nicht erst dann, wenn die Pandemie das nächste Mal die Schließung der Schulen erzwingt. Schon vor Corona war bei einem erkrankten Kind häufig nicht die Krankheit selbst, sondern der Arbeitsausfall eines Elternteils das größere Problem. Das ist traurig. Und erschreckend, wenn man es sich einmal ganz bewusst vor Augen führt: Wenn mein Kind krank ist, sollte mein erster Gedanke seiner Genesung gelten. Nicht meinem Arbeitgeber oder meinen Auftraggebern. Wenn ich die aktuellen Diskussionen auf den digitalen Elternabenden mitbekomme oder mich mit Eltern austausche über die Wünsche und Ansprüche an die Schulen ihrer Kinder, dann wundere ich mich oft sehr über das fehlende Bewusstsein für diesen Zustand. Da wird über die Bio-Qualität des Mittagessens gestritten, der „zu lasche“ Sportunterricht verurteilt oder die Abwechslung bei den Bastelangeboten am Nachmittag in Frage gestellt. Ernsthaft? Das sind eure größten Sorgen?

Seien wir mal ehrlich: Aktuell können wir einfach alle heilfroh sein, solange die Schulen unter ausreichenden Hygieneaspekten weiterhin geöffnet sind. Und das elterliche Berufsleben nicht wieder den desorganisierten Zustand annimmt, durch den viele von uns im Frühjahr 2020 gewabert sind. Aktuell bin ich dankbar für jeden einzelnen Tag, an dem mein Sohn zur Schule gehen und ich meinen Job ausüben kann. Natürlich kann der Judo-Kurs, für den beim Kennenlerntag Werbung gemacht wurde, gerade nicht stattfinden. Auch die Projektwoche und der Bastelnachmittag fallen Corona-bedingt aus. Doch das letzte, was mir derzeit in den Sinn kommt, ist, mich deshalb bei der Schulleitung zu melden, Alternativen einzufordern oder mich gar zu beschweren. Ich habe mitten in einer Pandemie einen sechsjährigen Erstklässler zu Hause, der jeden Tag gutgelaunt aus der Schule kommt. Der mir erzählt, dass regelmäßig gelüftet wird und dass er oft die Hände waschen muss. Der mir erklärt, wo er heute die große Pause verbringen durfte, denn natürlich können die Jahrgänge nur getrennt auf dem Schulhof spielen.

Das alles entspricht für mich den aktuellen Umständen nach einer wirklich „guten“ Schule. Selbst wenn das Essen nicht Bio ist, die Kinder drei Tage in Folge dieselbe Bastelarbeit verrichten und im Sportunterricht keine Leistungsorientierung stattfindet. Und damit wir uns nicht missverstehen: Ich will nicht resignieren. Und auch nicht ignorieren, was im Klassenraum meines Sohnes passiert. Schon gar nicht will ich dazu auffordern, etwas davon zu tun. Aber in dieser speziellen Zeit rufe ich gern dazu auf, die Ansprüche an das Schulsystem ein wenig den aktuellen Umständen anzupassen. Und wenn erst einmal ein Impfstoff da ist und wir das alles so gut wie möglich hinter uns gebracht haben, dann springe ich auf Elternabenden auch gern höchstpersönlich in die Bresche für Bio-Essen in der Schulkantine, bunte Bastelnachmittage und anspruchsvollen Sportunterricht. Versprochen.