Jungen haben im Schnitt schlechtere Noten als Mädchen, verlassen die Schule häufiger ohne einen Abschluss und machen seltener Abitur. Das zeigen Studien. Warum ist das so? Hier spielen viele Faktoren eine Rolle, einiges wird sicher Spekulation bleiben. Doch man weiß, dass Mädchen im gleichen Alter weiter entwickelt sind und allein aufgrund ihrer biologischen Reife Vorteile den Jungen gegenüber haben. Zudem werden sie anders sozialisiert, Jungen sind tendenziell lauter und wilder. Dabei ist der Kinder- und Jugendpsychologe Schliewenz geht davon aus, dass der angeborene Bewegungsdrang bei allen gleich ist. Möglicherweise unterdrücken Mädchen ihn früher, weil er nicht den Erwartungen in ihrem Umfeld entspricht. Der Psychologe sieht aber die Tendenz, dass auch Mädchen wilder werden. „Wer in der Schule wild und unruhig ist, fällt auf. Das wird reglementiert“, so Schliewenz. Und da man ein wildes Verhalten bisher eher von Jungen erwartet, ist die Schwelle mitunter niedriger, sie zu bestrafen. „Jungen werden also aufgrund der zu erwartenden Regelverletzung eher sanktioniert“.
Aus Prinzip schlechtere Noten für Jungen?
Das gilt zum Teil auch für die Zensuren. Um eine gute Note zu bekommen, muss man seine Kompetenz in der Schule unter Beweis stellen. Zudem muss die bewertende Person diese Kompetenz dann auch wahrnehmen, fasst Schliewenz zusammen. Für den Lehrer und dreifachen Vater Achim Tacke ist klar: „Es gibt keinen Grund, Jungen schlechter zu bewerten als Mädchen.“ Und gut ausgebildetes Lehrpersonal würde das auch nicht tun. „Mit Noten Druck auszuüben, bringt nichts, das verstärkt nur die Frustration, woraufhin die Kinder noch auffälliger werden.“ Außerdem sei es verhaltensauffälligen Schülern oft ohnehin gleichgültig, welche Noten sie bekommen. Noten, das haben sie unter Umständen schon in der Grundschule gelernt, bedeuten oft eine negative Verstärkung. Sie bedeuten Frustration und daher leider oft auch eine kritische Bewertung der Persönlichkeit. Kinder und Jugendliche, die im Unterricht stören, suchen nach Anerkennung und Hilfe, ist sich Tacke sicher. Doch die bekommen sie so nicht.
Mehr männliche Lehrer, mehr Natur, weniger Medienkonsum
Der Psychologe Schliewenz hält es für naheliegend, dass wir Menschen Zugehörige derselben Gruppe bevorzugt behandeln (also zum Beispiel Lehrerinnen die Schülerinnen und Lehrer die Schüler). Natürlich gibt es auch umgekehrte Beispiele.
Tacke, der seit mehr als 20 Jahren an Hamburger Stadtteilschulen arbeitet, ist überzeugt, dass es Jungen vor allem an Grundschulen, aber auch in der 5. und 6. Klasse der weiterführenden Schulen oft schwerer haben als Mädchen, da es hier überwiegend weibliche Lehrkräfte gibt. Jungen brauchen aber in ihrer Entwicklung männliche Impulse. Diese können auch weibliche Lehrkräften setzen, vorausgesetzt, sie sind sich ihrer bewusst. Engagierte männliche Lehrer setzen diese Impulse jedoch im Idealfall oft organisch, da sie sich emotional und gedanklich besser in die Erfahrungswelten der Jungen hineinversetzen können und so gleichzeitig als Vorbild und Rollenmodell fungieren. Das bestätigt auch Hans Hopf in seinem Buch „Jungen verstehen“: In weiblich dominierten Einrichtungen bilden die Jungen automatisch einen Gegenpol zum weiblich-ruhigen Verhalten. Wären auch an Grundschulen mehr Männer präsent, könnten sie die Jungs unterstützen, ihr teils unruhiges, unbeherrschtes und unaufmerksames Wesen in die richtigen Bahnen zu lenken. Doch in vielen Fällen sieht das Schulsystem keine Förderung der einzelnen Geschlechter vor. Und das trägt wiederum dazu bei, dass vor allem Jungs keine angemessenen Möglichkeiten bekommen, sich zu entwickeln und dadurch im Prinzip benachteiligt sind, so der Autor. Mit besseren Gehältern für Grundschullehrer gäbe es in den ersten Jahrgängen vermutlich auch mehr Männer. Lehrer Achim Tacke sieht das Hauptproblem der Jungen allerdings nicht in dem Mangel an männlichen Lehrkräften in Grundschulen – die jungen Lehrerinnen seien fantastisch ausgebildet – sondern in der Gesellschaft. Unsere Kinder haben zu wenig Kontakt zur Natur, zu wenig Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten und würden auch im häuslichen Umfeld zu wenig gefordert und gefördert. Die meisten Eltern müssen arbeiten und haben keine Zeit, mit den Kindern rauszugehen oder sie dazu anzuleiten, die spannenden Dinge und das Leben selbst zu entdecken. Das führt oft zu einem unregulierten Medienkonsum. Es sind vor allem die Jungs, die ihre Energie heute in Spielekonsolen leiten und nicht mehr ins Körperliche. Und es gibt einen weiteren Aspekt: „Eltern seien kaum noch in der Lage, konsequent nein zu sagen, dabei sucht der Nachwuchs vor allem auch in der Pubertät ganz klar nach Konsequenzen“, sagt der Lehrer, der selbst einen pubertierenden Sohn hat.
Das System muss sich an die Kinder anpassen, nicht umgekehrt
Im Hinblick auf Schulen wäre es wünschenswert, dass sich das System auf die Schüler (egal welchen Geschlechts) einstellt und ein für sie passendes Lernumfeld schafft. Doch meistens ist Schule nach wie vor ein Ort, an dem die Schüler sich anpassen müssen. „Erfolgreich sind dann diejenigen, denen das am besten gelingt“, so Schliewenz. Und da es aufgrund der Sozialisation eher Mädchen entspricht, sich ruhig und im Sitzen mit etwas für eine längere Zeit zu beschäftigen, passen sie besser ins System. Was brauchen also die Jungs? Für Achim Tacke ist klar: „Mehr Erlebnispädagogik. Die Kinder müssen in den Wald, der Unterricht muss anschaulicher werden.“ Lehrinhalte können und sollten praktisch vermittelt werden. Den ganzen Tag still zu sitzen ist für niemanden gut. Tacke schlägt vor: „Draußen Sport machen und dabei Berechnungen über Entfernung und Geschwindigkeit anstellen. Die Schüler handwerklich fördern, mit ihnen pflanzen, backen, etwas bauen.“ Damit könne man auch Kinder einfangen, die sonst untergehen und sich nicht konzentrieren können, da sie nachts auf der Konsole spielen. Tacke: „Gerade auch nach dem ersten, konsequenten Lockdown aufgrund von Corona haben wir gesehen, wie Schüler, die sonst hintenüberfallen, auf einmal super ansprechbar waren und mitgemacht haben, da wir einzeln oder in Kleingruppen gearbeitet haben.“ Voraussetzung für ein gutes Lernumfeld und eine gelungene Erlebnispädagogik sind also kleinere Gruppengrößen. „Ich kenne viele Jungs, die unter diagnostizierten Aufmerksamkeitsdefiziten leiden. Sobald wir mal in kleinen Gruppen unterwegs sind und einzeln auf sie eingehen können, merkt man ihnen kaum mehr etwas an. Leider kann das deutsche Schulsystem das nicht generell abbilden.“ Selbst mit zwei oder drei Lehrkräften, Sozialpädagogen und Sonderschulpädagogen pro Klasse, wie das in einigen Stadtteilschulen der Fall ist, ist die Schülerzahl zu groß, um problematische Kinder und Jugendliche angemessen aufzufangen und gleichzeitig für alle anderen als Pädagogen zur Verfügung zu stehen. Hier ist noch viel Luft nach oben. Schliewenz dazu: „Ich würde sagen, dass vieles bereits gut läuft. Lassen Sie uns dorthin schauen, wo die guten Beispiele sind! Und lassen Sie uns daraus lernen!“
Irlana Nörtemann
Geschlechtergetrennter Unterricht – eine Lösung?
Viele Jungen interessieren sich für Mathe und naturwissenschaftliche Fächer. „Typischerweise halten Mädchen ihr Wissen eher zurück, während Jungen bemüht sind, mit Halbwissen gegenüber den ‚Buddies‘ zu brillieren“, so Schliewenz. In vielen Schulen gibt es Ansätze, Mädchen und Jungen getrennt voneinander zu unterrichten, um beiden Gruppen dieselben Beteiligungschancen einzuräumen. Damit hat auch Achim Tacke gute Erfahrungen in der Praxis gemacht. Mädchen, die in den Naturwissenschaften typischerweise eher zurückhaltend sind, trauen sich dann eher, sich einzubringen und die Jungs vor allem im Pubertätsalter müssen nicht mehr so sehr „den Dicken“ spielen. Der Psychologe Schliewenz ist der Ansicht, dass wir aufhören sollten, in Typen und Geschlechtern zu denken. Er plädiert dafür, „jedes Kind und jeden Menschen erst einmal kennenzulernen, um gemeinsam herauszufinden, welches Angebot am ehesten passt“. Eine erstrebenswerte Theorie, doch in der Praxis sicher häufig noch schwer umzusetzen.
„Die Benachteiligung von Jungen an der Schule ist Realität“
Unsere Gastautorin Viola Herrmann ist Lehrerin und Mutter von drei Mädchen und einem Jungen. Ihr eindeutiges Statement: Pädagogische Neutralität. Sommerurlaub 2020. Ich führe ein freundliches Gespräch mit einer Urlaubsbekanntschaft, deren Tochter demnächst eingeschult wird. Ein spannendes Thema für mich als Lehrerin, Mutter und Autorin eines Buches zum Thema Schulanfang. An einer Stelle hake ich nach – warum wurde gerade diese Schule für das Kind ausgesucht, obwohl sie sich doch außerhalb des Einzugsgebiets befindet? Ganz einfach, erklärt mir der Vater schmunzelnd. Diese Schule nimmt jedes Jahr deutlich weniger Jungen als Mädchen auf. Eine offizielle Begründung gibt es dafür nicht, doch hinter vorgehaltener Elternhand wird gemunkelt, dass die Lehrer es sich so deutlich leichter machen würden. Schließlich sei doch bekannt, dass Jungen im Unterricht wesentlich anstrengender agieren würden, als das bei Mädchen der Fall ist.Bei dieser Aussage rutscht mir fast mein Wasserglas aus der Hand. Gleichberechtigung funktioniert für mich nämlich nicht nur einseitig. Ich bin zwar Mutter von drei Töchtern, doch natürlich soll auch mein Sohn dieselben Möglichkeiten haben, wie sie Mädchen geboten werden. Das ist hier ganz offensichtlich nicht der Fall.Auch wenn dieses Beispiel krass anmuten mag, so ist die Benachteiligung von Jungen in der Schule doch häufig Realität. Vor allem die Grundschulen, die überwiegend von weiblichen Lehrkräften dominiert werden, schaffen für viele Jungen nicht den Raum, den sie für ihre Entwicklung benötigen. Lange Phasen des ruhigen Arbeitens, weiblich geprägte Arbeitsaufträge und ein geringes motorisches Angebot machen es ihnen schwer, ihr volles Leistungspotenzial zu entfalten. Entsteht aus diesen Rahmenbedingungen Langeweile, dann ist es bis zum Störenfried oder Klassenclown nicht mehr weit.Dabei sind es nicht einfach DIE Jungs, die stören. Genau so wenig, wie DIE Mädchen immer dem Unterricht folgen und sich völlig regelkonform verhalten. Der Unterschied ist, dass Jungen in der Regel in ihrem Verhalten mehr auffallen. Sie sind lauter und ungestümer als Mädchen. Sie testen ihre körperlichen Kräfte aus und werden daher im schulischen Umfeld häufig als „störend“ empfunden.Mädchen gelingt es eher, unter dem Lehrer-Radar zu fliegen. Wie mein Sohn es unlängst formulierte: „Weißt du Mama, die Mädchen sind einfach schlau. Die tun im Unterricht vor den Lehrern immer so nett und in der Pause ärgern sie uns. Wenn wir dann was sagen, glaubt uns eh kein Lehrer.“ Eine subjektive Wahrnehmung, keine Frage. Aber ähnliche Situationen habe auch ich als Lehrerin bereits erlebt.Dies mag auch der Grund dafür sein, warum Mädchen bisweilen bessere Noten als Jungen erhalten – und das bei vergleichbaren Leistungen. Ihr Sozialverhalten entspricht eher der erwünschten Unterrichtsnorm, ihre verbalen Beiträge werden honoriert und ihre schriftlichen Arbeiten sind meist strukturierter und ordentlicher als die ihrer männlichen Klassenkameraden. Sie machen es dem Lehrer schlichtweg leichter, die positiven Aspekte ihrer Schülerpersönlichkeit wahrzunehmen. Bei Jungen hingegen wird die Anerkennung der Fähigkeiten durch ihr konträres und teilweise herausforderndes Verhalten getrübt. Ist das ein Vorwurf an die weiblichen Lehrer? Nein. Eher eine Feststellung aus meiner Erfahrung als Lehrerin und Mutter. Ich selber möchte mich davon nicht ausnehmen, auch meine Augen haben im Unterricht angesichts lärmender Jungen und wartender Mädchen schon gerollt. Genauso wie ich meine männlichen Kollegen beim Schimpfen mit zu Unrecht angeschwärzten Jungs gesehen habe, während die Mädchen sich hinter ihrem Rücken köstlich über ihren Streich amüsierten.Der Ruf nach mehr männlichen Lehrkräften ist prinzipiell zwar richtig, aber auch nicht das alleinige Lösungsmittel. Ebenso wenig wie eine Aufstockung der Sportstunden pro Woche. Beide Maßnahmen wären hilfreich, doch letztlich müssen wir in der Schule eine grundlegendere Tatsache verstehen: Mädchen sind anders – Jungen auch. Gestehen wir doch bitte in pädagogischer Neutralität beiden Geschlechtern ihre Verhaltensweisen zu. Arbeiten wir mit ihnen und akzeptieren diese, ohne über sie zu richten. Nicht die Jungen müssen sich der Schule anpassen. Umgekehrt wird ein Schuh draus.
Buchtipp
Viola Patricia Herrmann hat auch ein Buch zum Thema Schule veröffentlicht: „Mein Kind wird Schulkind. Was Eltern zum Schulbeginn wissen müssen. Insider-Tipps einer Lehrerin und Mutter“, 8,90 Euro, mama-und-co.de/mein-kind-wird-schulkind-tipps-zur-einschulung.