„Lost Generation“ durch die Corona-Pandemie?

Professor Klaus Hurrelmann beschreibt im Interview mit dem Magazin schule die zukünftigen Rollen in der Schule von morgen. Und welche Lobby Jugendliche heute haben. Hier ein Auszug des Interviews, das in der Ausgabe vom 27. Mai veröffentlicht wird.

Foto: Andreas Behlen

Sind die Jugendlichen und Schüler wirklich durch die Corona-Pandemie eine Art „lost Generation”?

„Schüler gestalten den Lehrplan“ – das fordert einer der renommiertesten deutschen Bildungsforscher…

Professor Hurrelmann: Wir müssen uns fragen, wie lange funktioniert ein Bildungsprozess bei jungen Leuten, der nicht im bewährten Muster eines strukturierten Unterrichts daherkommt, sondern eben in völlig neuen, für uns unvertrauten und noch nicht bewährten Mustern. Der Prozess ist ja digital oder teil-digital, es ist somit alles völlig neu und überraschend für die Schüler.

Frage: Das machen andere Länder doch aber schon länger?

Hurrelmann: Im Gegensatz dazu haben die viel klüger und seit langem damit experimentiert und gesehen, dass digitaler Unterricht auch viele positive Seiten haben kann. Aber für uns ist das alles neu und deswegen muss man unterm Strich befürchten, dass wir große Ausfälle haben im Leistungspotenzial, natürlich auch messbar in Schulleistungen, die bei den Kindern und bei den Jugendlichen jetzt bald durch die verschiedenen Testverfahren erfasst werden.

Frage: Aber es trifft ja nicht jeden gleichermaßen?

Antwort: Das trifft sicher – je nach sozialer Herkunft – einige mehr und andere weniger.
Die besonderen Benachteiligungen häufen sich vermutlich bei dem Drittel: Das sind
die Kinder, die auch schon vor der Pandemie Schwierigkeiten hatten. Ihre Eltern konnten sie auch vor Corona nicht gut unterstützen. Sie sind selbst nicht gut gebildet und haben andere Probleme als sich um die Bildung ihrer Kinder zu kümmern. Auch weil sie die finanziellen Probleme aller in der Familie im Auge haben.

Frage: Was ist mit den anderen 70 Prozent der Schüler?

Antwort: In der mittleren Gruppe muss man schauen. Das kann nach Fächern und Gebieten unterschiedlich sein. In der leistungsstärksten Schülergruppe ist es nicht völlig ausgeschlossen, dass einige genauso gut zurechtkommen unter Corona-Bedingungen wie davor oder sogar Leistungen entwickeln, die über das hinausgehen. Meist wird das so sein, wenn ein sehr motiviertes Elternhaus Freude an den Aufgaben hat und das Kind gezielt fördert.

Frage: Warum sind Jugendliche und Kinder so stark von den Folgen der Pandemie betroffen, so viel mehr als Erwachsene?

Antwort: Im Gegensatz zu vielen Dienstleistungsbereichen oder Arbeitsprozessen, ist eine digitale Umstellung – also Arbeit im Homeoffice, – im Bildungssektor schwieriger umsetzbar. Im Produktionsbereich können 60 Prozent der Prozesse aufrecht erhalten bleiben oder es gibt sogar neue Formen von Produktivität und es werden neue Spitzen erreicht. Das ist im Bildungssektor nicht zu organisieren. Gerade die Kinder und die Jugendlichen, die eine schlechte Startposition haben, brauchen die Anwesenheit von geschulten Pädagogen, sie brauchen die Strukturierung des Tages, sie brauchen die gezielte Anregung und Unterstützung. Wichtig sind meist ältere, professionell geschulte Personen, um auch soziale Fähigkeit zu trainieren. Vielleicht ginge eine Kombination, aber es klappt nicht ohne Präsenz in der Schule.

Frage: Sind die Gesetzmäßigkeiten von Bildung anders?

Antwort: „People organized”, ein Begriff der amerikanischen Organisations-Soziologie, steht dafür: Menschen arbeiten mit Menschen – und die kommen in die Institutionen mit dem Ziel, dass sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung anders herauskommen und mit der Institution wachsen. Das passiert beim Homeschooling nicht, da ist ein völliger Ausfall dieser Impulse.

Frage: Also behindert diese Isolation zuhause Kinder und Jugendliche?

Antwort: Im Jugendalter, insbesondere so ab 14 Jahren, brauchen junge Menschen Freiheit; sie wollen ihre Körperlichkeit testen, sie brauchen Bewegung. Sie wollen sich von den Eltern absetzen, sie brauchen Freunde, brauchen Herausforderungen. Und da ist der Schulbesuch für die Leistungserbringung genauso wichtig wie für die soziale Entwicklung. Schule ist dann eine fast nicht mehr wegzudenkende Institution.

Das ganze Interview wird im Magazin schule, Ausgabe 2 veröffentlicht. Es erscheint am 27. Mai 2021.