Antisemitismus in Schulen – es besteht Handlungsbedarf

Schüler lesen "Das Tagebuch der Anne Frank", besuchen KZ-Gedenkstätten und putzen Stolpersteine – trotzdem ist in vielen Klassenzimmern Antisemitismus alltäglich. Experten sehen dringenden Handlungsbedarf.

Antisemitismus stellt Schulen noch immer regelmäßig vor Herausforderungen. Foto: Getty Images

Schüler einer Berliner Gesamtschule beschimpfen einen Jugendlichen als „Scheiß­jude“ und „Scheißisraeli“. Im Klassenchat einer bayerischen neunten Klasse wird üble antisemitische Hetze mitsamt Hakenkreuzen und Gaskammer-Sprüchen verbreitet – ausgerechnet an einem Gymnasium, das bald den Namen eines Auschwitz-Überlebenden tragen soll. Nach einem Besuch der KZ-Gedenkstätte Buchenwald spielen Schüler antisemitische Lieder ab und singen den Text mit. Das sind nur drei von vielen Fällen aus den Nachrichten – und etliche antisemitische Vorfälle werden erst gar nicht bekannt. Judenhass an Schulen ist lange Zeit unterschätzt worden. 

Schulen scheuen sich vor Öffentlichkeit. Der Zentralrat der Juden befürwortet deshalb eine Meldepflicht für Schulen. „Bisher scheuen sich vermutlich manche Schulen, antisemitische Vorfälle zu melden, weil sie um den Ruf ihrer Schule fürchten“, so Präsident Josef Schuster. Aber: „Das ist genau der falsche Ansatz, denn erst die offensive Interven­tion kann zu Verbesserungen führen.“ Auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, verlangt eine Meldepflicht – in Baden-Württemberg und Berlin gibt es diese bereits. Der Zentralrat der Juden, die Kultusministerkonferenz und die Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten wollen den Kampf gegen Antisemitismus an Schulen nun verstärken. Sie beriefen Ende 2019 eine Arbeitsgruppe ein. Diese soll Empfehlungen zum Umgang mit Antisemitismus erarbeiten.

„Jude“ ist wieder ein gängiges Schimpfwort. Die Wissenschaftlerin Julia Bernstein – ebenfalls Mitglied der Arbeitsgruppe – sieht seit Langem dringenden Handlungsbedarf: „Studien zufolge sehen 90 Prozent der Juden in Deutschland Antisemitismus als großes Problem“, so Bernstein, die an der Frankfurt University of Applied Sciences eine Professur für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft hat. „Und einer der häufigsten Orte, an denen ihnen Antisemitismus begegnet, sind Schulen.“ Tatsächlich ist „Du Jude“ auf vielen Schulhöfen ein gängiges Schimpfwort, „angeknüpft an die klassischen Vorurteile über geizige, reiche, listige, vertrauensunwürdige Juden, die die Welt kontrollieren“, heißt es in einer Studie der Universität Bielefeld. „Ja, manchmal fällt bei uns dieses Schimpfwort“, bestätigt eine Lehrerin einer süddeutschen Mittelschule. „Dagegen gehe ich vor und suche das Gespräch, wie bei jeder anderen Beschimpfung und Beleidigung auch.“ Andere Lehrer, zum Beispiel Pädagogen eines hessischen oder auch eines Münchner Gymnasiums, sagen dagegen auf Anfrage: „Bei unserer Klientel gibt es so was nicht.“ Dabei ist Antisemitismus kein Problem einer bestimmten Schulart. „Er ist überall anzutreffen, wenn auch in der weiterführenden Schule viel weiter verbreitet als in der Grundschule“, erklärt Schus­ter. Bernstein weist auf die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Juden und vieler Lehrer hin. Manchmal würden Lehrer Antisemitismus schlicht nicht erkennen. Manchmal würden Schüler andere beleidigen, meinten dies aber nicht bewusst antisemitisch. Dann nehmen – so Bernstein – viele Lehrkräfte die Tat auch nicht als antisemitisch wahr. „Sie deuten antisemitische Äußerungen dann einfach als Dummheit und bagatellisieren das Problem damit.“ Und manche Lehrer hätten auch die Einstellung: „Wenn ich auf jedes Schimpfwort reagieren muss, komme ich zu nichts anderem mehr.“

Lehrer wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands Heinz-Peter Meidinger findet: „Lehrer müssen sensibilisiert werden, damit sie wissen, wie sie reagieren sollen, und nicht vielleicht aus Verunsicherung auch mal eine Äußerung überhören.“ Meidinger sieht auch Defizite in der Ausbildung der Pädagogen. „In Bayern zum Beispiel werden Lehrer in Staatsbürgerkunde unterrichtet, da geht es vorrangig um die Grundlagen der Demokratie“, so Meidinger. „Da würde ich mir wünschen, dass im Sinne einer wehrhaften Demokratie Lehrkräfte aller Fächer auch darauf vorbereitet werden, rassistischen und antisemitischen Äußerungen aktiv und offensiv entgegenzutreten. Wenn es um den Holocaust geht, wissen die Lehrer natürlich Bescheid, aber wenn es um latenten Antisemitismus geht, ist es schon schwieriger.“Jüdische Schüler ziehen sich oft zurück. Wenn Antisemitismus nicht erkannt, als Kleinigkeit abgetan oder ignoriert wird, löst das bei jüdischen Kindern Stress, Angst und Vermeidungsstrategien aus. „Manchmal wird den jüdischen Schülern vorgeworfen, übersensibel zu sein, und die Täter werden geschützt“, beklagt Schuster. „Das führt dazu, dass jüdische Schüler sich zurückziehen und sich nicht mehr als Juden zu erkennen geben wollen.“ Oft tragen die Kinder dann lieber keine Kippa in der Schule oder nehmen das Kettchen mit dem Davidstern vor dem Unterricht ab. Auch eine jüdische Lehrerin aus München fühlt sich verunsichert: „Ich erzähle in der Klasse normalerweise nicht, dass ich Jüdin bin, das machen katholische Kollegen ja auch nicht. Aber wenn mich jemand zum Beispiel fragt: ‚Wie war Weihnachten?‘, dann erzähle ich schon, dass wir eine jüdische Familie sind und Chanukka gefeiert haben.“ Oft werde sie dann im Anschluss mit Fragen zum Judentum, zur Politik. Israels oder zum Nahostkonflikt überhäuft. „Ich finde zwar eigentlich, dass man offen mit seiner Reli­gion umgehen sollte, aber ich überlege mir schon, wem ich was erzähle.“Irritiert sei sie auch gewesen, als sie bei der Schulleitung eine Befreiung für einen jüdischen Feiertag beantragen wollte. „Das war ganz schwierig, eigentlich wusste niemand, wie man damit umgeht.“ Am Ende bekam sie aber frei, Kollegen und Kolleginnen halfen ihr und übernahmen ihre Stunden. „Verwirrung“ um Feiertage gibt es bei jüdischen Pädagogen häufig, sagt Bernstein. „Obwohl Juden Feiertage gesetzlich zustehen, werden sie dann Kritik ausgesetzt als diejenigen, die doppelt von den Feiertagen profitieren würden, nämlich von den christlichen und den jüdischen. Nach dem Motto: Die Juden wollen mal wieder eine Extrawurst.“ Die Münchner Lehrerin hofft auf mehr Selbstverständlichkeit im Umgang mit jüdischen Schülern und Lehrkräften. Dafür müsste auch der Unterrichtsstoff erweitert werden, findet sie. Denn natürlich lesen Kinder heutzutage „Das Tagebuch der Anne Frank“, sie besuchen KZ-Gedenkstätten oder putzen sogar Stolpersteine. „Es ist wichtig, dass Schüler über die Schoah lernen, aber das ist auch das Einzige, was die meisten Schüler über Juden lernen.“ Jüdische Reli­gion, Feste und Geschichte, das normale jüdische Leben kämen dagegen praktisch nicht vor. „Die Schüler werden ihre Angst vorm Fremden verlieren, wenn sie begreifen, dass Juden ganz normale Mitschüler und Kollegen sind und Vorurteile und Hass, den sie oft von ihren Eltern übernehmen, ablegen können.“ 

CLAUDIA STEINER

„In der Schule trage ich keine Kippa – ich möchte 
nicht die Aufmerksamkeit auf mich ziehen“

Es ist nicht einfach, jüdische Kinder oder Jugendliche zu finden, die bereit sind, über ihre Erfahrungen an Schulen zu sprechen. Der elf Jahre alte Dan geht in die 7. Klasse eines Düsseldorfer Gymnasiums.„Die meisten Kinder in meiner Klasse wissen, dass ich Jude bin, die aus der Nachbarklasse auch – sonst eher nicht, weil ich keine Kippa in der Schule trage. Ich möchte nicht, dass ich damit die Aufmerksamkeit der anderen Kinder auf mich ziehe. Viele wissen gar nicht, was das Judentum so ist, und ich habe keine Lust, es allen zu erklären. Als ich zu Beginn der 5. Klasse gesagt habe, dass ich Jude bin, kamen sehr viele Fragen: Wieso bist du Jude? Was feiert ihr so? Beschimpfungen oder Vorurteile habe ich in der Schule nicht erlebt. Ich habe dort sehr gute Freunde, die würden so was nie zu mir sagen. Meine Schulleitung ist auch offen: Ich gehe zum Beispiel nicht in praktische Philosophie, sondern einmal die Woche nachmittags zum Religionsunterricht in eine jüdische Schule. Privat trage ich die Kippa, aber wenn ich auf der Straße unterwegs bin, dann ziehe ich meist eine Mütze oder Käppi drüber, weil’s cool ist, aber auch weil ich nicht so viel Aufmerksamkeit möchte. Einmal bin ich nur mit Kippa Straßenbahn gefahren. Es hat niemand was gesagt, aber irgendwie kommt es mir komisch vor. Ich lese ja immer mal wieder in der Zeitung oder höre in den Nachrichten, dass es manchmal auch schlechte Reaktionen gibt, wenn jemand die Kippa trägt. Ich würde mir wünschen, dass alle Religionen vereint sind, dass es normal ist, dass da ein Christ, ein Jude und ein Moslem beisammen sind, dass alle gut miteinander klarkommen – egal, welche Religion sie haben.“

Links, Bücher, Studien

Die Website „Stop Antisemitismus“ zeigt 35 Zitate, die latent oder offen antisemitisch sind. Vermittelt wird, wie man auf derartige Äußerungen konkret reagieren kann und wo man Hilfe bekommt: stopantisemitismus.de „Mach mal keine Judenaktion!“: Umfangreiche Zusammenfassung zum Antisemitismus mit Lösungsansätzen für Bildungseinrichtungen: frankfurt-university.de/antisemitismus-schule Das Anne Frank Zentrum hat eine Handreichung zum Umgang mit Antisemitismus in der Grundschule erstellt: https://bit.ly/37rgwzM Bericht der Universität Bielefeld zum Antisemitismus in Deutschland: uni-bielefeld.de/ikg/ daten/JuPe_Bericht_April2017.pdf Im Film „Die Judenschublade – Junge Juden in D.“