Bildungspolitik und Bildungsgestaltung: Das erwarten wir für 2022

Die Ampelkoalition startet eine neue Regierung. Mit Mut, Einigkeit, Aufbruchsstimmung... Die im Koalitionsvertrag genannte Idee der "lernenden Politik" und des "lernenden Landes" ist die sicherlich richtige Richtung. Die Kooperationsidee von Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik kann funktionieren. Wir haben eine Umfrage unter ExpertInnen 
gestartet und sie nach ihrer
 Meinung befragt.

Aus unterschiedlichsten Perspektiven blicken wir auf die Erwartungen in Sachen Bildung für das Jahr 2022. Foto: Getty Images/tiero

BILDUNG IST TOP-THEMA:

Die Ampelpartner titulieren nicht nur „Kinder verdienen beste Bildung“, sondern bekennen sich auch zum nötigen Investment: Die öffentlichen Bildungsausgaben sollen deutlich steigen.

KOOPERATIONSGEBOT STATT -VERBOT:

Für eine echte Transformation des Bildungssystems sollen die Grundstrukturen der Bildungspolitik angepackt werden. Das Prinzip „Kooperationsgebot“ statt -verbot ist mega-gut. Spannend wird werden, wie eine „neue Kultur in der Bildungszusammenarbeit“ aussehen wird.

VEREINFACHTE UMSETZUNG FÜR DIGITALE BILDUNG IN SCHULEN:

Endlich sollen die Positivlisten datenschutzkonformer, digitaler Lehr- und Lernmittel kommen und für Orientierung und Transparenz sorgen. Die Ampelpartner wollen lizenzfreie Lehr- und Lernsoftware unterstützen und gemeinsam mit den Ländern digitale Programmstrukturen und Plattformen für Open Educational Resources schaffen.

DIGITALE BILDUNG IN DER LEHRKRÄFTEFORTBILDUNG:

Digitale Bildung wird ein neuer Schwerpunkt in der Qualitätsoffensive Lehrerbildung.

DIGITALPAKT 2.0:

Es wird ein Digitalpakt 2.0 aufgelegt – Laufzeit bis 2030. Die Gelder des bisherigen Digitalpakts sollen schneller und unbürokratischer ausgeschüttet werden.

BUNDESZENTRALE FÜR DIGITALE BILDUNG:

Wie eine noch zu gründende „Bundeszentrale für digitale Bildung“ ausgestaltet wird, muss sich zeigen. Zumindest hat es die Idee in den Vertrag geschafft. Wichtige Einzelpunkte: SchülerInnenfirmen sollen gefördert werden; Social Entrepreneurship wird gestärkt; das Wahlalter wird auf 16 gesenkt; Gründungen innerhalb von 24 Stunden möglich sein.

Wir befragen…

Edgar Bohn – Bundesvorsitzender Grundschulverband (GSV)

Was erwarte ich 2022 für die Bildung?

Dass die Politik den Fokus auf die Grundschule legt, die Bedeutung der dort verorteten grundlegenden Bildung erkennt und die notwendigen Schritte unternimmt, um deren Qualität – die droht verloren zu gehen (mangelndes Personal, mangelnde Ausstattung, mangelnde Akzeptanz) – zu sichern. Dieses Fundament bedarf einer dringenden Aufwertung.

Welche Projekte und Vorhaben muss eine neue Regierung in Sachen Schule unbedingt angehen?

Die Lehren aus der Pandemie sind zu ziehen. Wir benötigen einen breiten gesellschaftlichen – offenen – Diskurs, wie Schule gestaltet sein muss, die die Kinder und Jugendlichen von heute auf die Gesellschaft von morgen vorbereitet. Das aktuelle System ist dieser Herausforderung nicht gewachsen.

Welches Bildungsvorhaben ist unabdingbar für deinen Berufsstand und/oder euren Verband?

Wie oben benannt, muss das Fundament schulischer Bildung in seiner Bedeutung gesamtgesellschaftlich erfasst werden und so ausgestattet werden, dass die Grundschulen in die Lage versetzt werden, jedes Kind in seiner Entwicklung zu unterstützen und dabei kein Kind verloren zu geben.

Katharina Rohrbach-Holzinger – Grundschullehrerin (im Vorstand des GSV)

Was erwarte ich 2022 für die Bildung?

Kontinuität, Stabilität und genügend personelle Ressourcen für eine pädagogisch hochwertige, kindgerechte Bildungsarbeit an den Grundschulen.

Welche Projekte und Vorhaben muss eine neue Regierung in Sachen Schule unbedingt angehen?

Praktikable Projekte zur Sicherung individuell einsatzbarer Förder- und Differenzierungsstunden vor Ort an jeder Grundschule. Außerdem eine Sicherung der digitalen Ausstattung und Wartung der Hardware an jeder Grundschule sowie eine flächendeckende Möglichkeit zur Qualifizierung der Lehrkräfte im Bereich des digitalen Lernens.

Welches Bildungsvorhaben ist unabdingbar für deinen Berufsstand und/oder euren Verband?

Der Grundschulverband setzt sich ein für qualitativ hohe Bildungsarbeit mit dem Fokus auf die Bedürfnisse der Kinder. Wir wünschen uns eine anspruchsvolle, stabile Bildungspolitik unabhängig von anderen politischen Interessen.

Christoph Straub – Leiter eines Grundschulseminars

Was erwarte ich 2022 für die Bildung?

  • Ruhe und Kontinuität in bildungspolitischen Schwerpunktsetzungen; damit einhergehend sollte Bildung weniger von parteipolitischen Einflüssen in Wahlperioden abhängig sein.
  • Konsequente Umsetzung einer „Politik des Gehörtwerdens“ und „des sich Ehrlichmachens“: Rückmeldung von Schulleitungen, Lehrkräften, Eltern, wo „der Schuh drückt“.
  • Eindeutige Schwerpunktsetzungen: Förderung von Kindern, die Nachholbedarf haben, ebenso die Förderung von leistungsstarken Kindern, damit alle Kinder ihr Potenzial entfalten können.
  • Fokussierung auf Bildungs- und Lernprozesse bei Kindern in der Schule und weniger Fokus auf bundesweite Vergleichsstudien/-arbeiten.
  • Einsatz für eine allseitige und unverkürzte Bildung, z.B. ästhetische Bildung, religiöse Bildung, ethische Bildung, soziale Bildung und keine Verkürzung auf die Fächer „Deutsch“ und „Mathematik“.

Welche Projekte und Vorhaben muss eine neue Regierung in Sachen Schule unbedingt angehen?

  • Wir benötigen an den Grundschulen unabdingbar funktionierende und schulnahe Unterstützungsangebote (z. B. schulpsychologische Beratungsstellen, sonderpädagogische Dienste, passende Fortbildungsangebote).
  • Aktive Gewinnung des beruflichen Nachwuchses im Lehramt „Grundschule“.
  • Qualifizierung von Führungskräften in den Regionen und Aufbau von regionalen Netzwerken z. B. unter Schulleitungen: weg vom Einzelkämpferdasein, hin zum Teamplayer und Denken in „Netzwerkstrukturen“.

Welches Bildungsvorhaben ist unabdingbar für deinen Berufsstand und/oder euren Verband?

Mehr Wertschätzung der Arbeit von Lehrkräften in der Grundschule, der Schulart mit der höchsten Heterogenität und der intensivsten Zusammenarbeit mit den Eltern. In diesem Zusammenhang muss auch eine höhere Besoldung der Grundschullehrkräfte umgesetzt werden.

Gernot Körner – Fachredakteur

Da Schulbildung hierzulande Ländersache ist, erwarte ich von der aktuellen Bundesregierung relativ wenig. Zunächst einmal wäre es deshalb wichtig, dass das Kooperationsverbot fällt. Mit Blick in den Koalitionsvertrag stimmt es mich optimistisch, dass mehr Geld fließen soll in die Schulen selbst, in die digitale Ausstattung der Schulen und in die Lehrerfortbildung. Diese würde ich mir verpflichtend für alle Lehrkräfte zumindest einmal jährlich wünschen.

Was erwarte ich 2022 für die Bildung?

  • Die Förderung eines Bildungssystems, das von den Schülerinnen und Schülern ausgeht und davon, wie der Mensch lernt, und nicht von Noten und anderen Ergebnissen.
  • Die Förderung eines inklusiven und integrativen Bildungssystems, das die Vision einer integrativen Gesellschaft hat.
  • Die verstärkte Förderung von Gesamt- und Gemeinschaftsschulen und das Ende des viergliedrigen Schulsystems.
  • Die Begleitung und Unterstützung der Lehrkräfte auch mit gegenseitigen Unterrichtsbesuchen durch andere Lehrkräfte (Peergroups).
  • Die Sanierung vieler Schulen und Schulräume, vor allem vieler Toiletten in den Schulen.
  • Eine bessere Ausstattung der Schulen mit modernen digitalen Bildschirmgeräten, vor allem im Sekundarbereich 1.
  • Die Verpflichtung zur Fortbildung von Lehrkräften mindestens einmal jährlich.
  • Die Förderung kleinerer Schulklassen.

Welche Projekte und Vorhaben muss eine neue Regierung in Sachen Schule unbedingt angehen?

Verstärkte Bemühungen im Bereich Inklusion und Integration sowie die Verbesserung des Bauzustandes vieler Schulen. Weil der räumliche Zustand auch eine Aussage zur Wertschätzung der Schülerinnen und Schüler ist.

Welches Bildungsvorhaben ist unabdingbar für deinen Berufsstand und/oder euren Verband?

Eine bessere Journalistenausbildung wäre wichtig.

Florian Nuxoll – Gymnasiallehrer

Was erwarte ich 2022 für die Bildung?

Ich erwarte, dass man sich intensiv mit den coronabedingten Defiziten auseinandersetzt. Auf der einen Seite sind es die Lerndefizite, aber genauso wichtig sind die sozialen Defizite. Eigentlich bräuchten Lehrkräfte und SchülerInnen dafür mehr Zeit. Deshalb wünsche ich mir zwei um jeweils sechs Monate verlängerte Schuljahre.

Welche Projekte und Vorhaben muss eine neue Regierung in Sachen Schule unbedingt angehen?

Die Digitalisierung der Schulen steckt noch immer in den Kinderschuhen. Im internationalen Vergleich hinken wir extrem hinterher. Wir brauchen nicht einzelne Digitalpakte, sondern über viele Jahre zugesagte Beträge. So gibt es Planungssicherheit bei Schulträgern, und es kann sowohl Hard- als auch Software angeschafft werden.

Welches Bildungsvorhaben ist unabdingbar für deinen Berufsstand und/oder euren Verband?

Lehrkräfte brauchen professionelle und nachhaltige Fortbildungen zum Thema digitale Schule. Nur so kann Unterricht in einer digitalisierten Welt funktionieren. Das heißt nicht, dass immer digitale Endgeräte genutzt werden müssen. Lehrkräfte müssen aber wissen, wie man Hard- und Software bedient, um sich bewusst in einzelnen Unterrichtssituationen dafür oder dagegen zu entscheiden.

Magazin pro Bildung SCHULE im Abo

Das Magazin SCHULE ist kompetenter Ratgeber und verständnisvoller Begleiter für Eltern von Schulkindern.

Jack Herrmann – Schüler

Nicht unbedingt spezifisch für eine neue Regierung, aber trotzdem weiterhin von entscheidender Bedeutung ist eine zukunftsorientierte, zeitgerechte Ausrichtung der Bildungspolitik. Drei Schwerpunkte sind wichtig:

Modernisierung der technischen Infrastruktur an Schulen und Schwerpunktsetzung auf digitale Inhalte:

  • Wir leben in einem modernen, immer digitaler werdendem Zeitalter. In der Schule wird man darauf nicht ausreichend vorbereitet.
  • Vor der 11. Klasse gibt es an meiner Schule nur ein Jahr Informatikunterricht, in dem nur die grundlegendsten Kompetenzen der Informatik vermittelt werden.
  • Selbst für Schüler, die sich nicht unbedingt im Bereich der Informatik spezialisieren wollen, werden selbst die grundlegenden Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Medien nur unzureichend vermittelt.
  • Es wird nicht mithilfe von Tablets und nur sehr wenig mit Laptops, PCs oder Smartboards gearbeitet. Der ausschlaggebende Grund dafür sind oftmals mangelnde Fähigkeiten der Lehrer.
  • Ich würde mir wünschen, dass es verpflichtende Fortbildungen gibt, die darauf abzielen, dass der Unterricht zeitgemäß mithilfe von digitalen Medien gestaltet wird, und dass Fähigkeiten, wie das Programmieren und der Umgang mit Computern, stärker thematisiert werden, da dies Fähigkeiten sind, die zukünftig, unabhängig vom Berufsfeld gebraucht werden und weiter an Bedeutung gewinnen werden.
  • Außerdem sollten noch gezieltere Anreize dafür gesetzt werden, die bereitgestellten Fördergelder für die digitale Modernisierung der Schulen abzurufen, da ja schon heute die Verfügbarkeit der finanziellen Mittel nicht das Problem ist, sondern der unbürokratische Abruf durch Länder und Kommunen.

Individuelle Förderung:
Oftmals bekommen im Unterricht alle Schüler die gleichen Aufgaben, unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten in einem bestimmten Fach:

  • Einzelne Schüler werden nicht angepasst an Begabungen in bestimmten Bereichen behandelt, bzw. leistungsbezogen gefördert (an beiden Seiten des Spektrums).
  • Es ist essenziell zu erkennen, dass individuelle Potenziale nur ausgeschöpft werden können, wenn auf diese gezielt eingegangen wird – geschieht dies nicht, verlieren Schüler ihr Interesse am Lernen neuer Sachverhalte und Kompetenzen.
  • Erreicht werden könnte dies, indem mehr Projekte und Wettbewerbe angeboten werden, an denen Schüler teilnehmen können, bzw. deren Verfügbarkeit bekannt gemacht wird, die gezielt Problemlösungskompetenz vermitteln sowie die individuelle Kreativität fördern.
  • Gezielte Positionierung von Themen, die der inhaltlichen Ausrichtung der neuen Regierungskoalition entsprechen und uns Schüler auf deren Anwendung vorbereiten: Neben der Vermittlung von Fähigkeiten in der digitalen Welt sollten auch wirtschaftliche Kompetenzen, die beispielsweise der marktliberalen Position der FDP entsprechen, vermittelt werden.
  • Die wachsende Bedeutung von individueller finanzieller Altersvorsorge kann nicht überbewertet werden, und somit ist es wichtig, Wissen darüber zu vermitteln, wie in Wertpapiere, Fonds oder Einzelaktien investiert werden kann und welche Chancen und Risiken damit verbunden sind.
  • Bisher sind auch in diesem Bereich Schüler auf Eigeninitiative angewiesen, während viele Schüler, aufgrund ihres sozial-ökonomischen Status überhaupt keinen Zugang zu dem Thema haben.
  • Ebenso sollte ein Schwerpunkt auf eine ökologische Lebensweise gelegt sowie der Aspekt von Unternehmens- gründungen gerade im ökologischen Bereich thematisiert werden.
  • In Zeiten der Klimakrise wäre es, meiner Meinung nach, enorm wichtig, Innovationen zu fördern und besonders die Menschen, die etwas mithilfe ihrer Ideen verändern wollen, zu unterstützen.
  • Letztendlich bleibt auch die Globalisierung und das Verständnis internationaler Zusammenhänge ein Schlüsselthema für die Zukunft, um junge Menschen dafür zu sensibilisieren, Konfliktpotenzial zu erkennen und Konflikte frühzeitig zu verhindern zu helfen.

Prof. Dr. Friedrich Schönweiss – Bildungsforscher

Was erwarte ich 2022 für die Bildung?

Digitalisierung ist viel, aber nicht alles. Kinder brauchen intensive Unterstützung durch echte Menschen, die wirklich etwas von Bildung verstehen und die für ihren Beruf „brennen“. Dafür benötigen Lehrer, Förderkräfte, aber auch Eltern oder Tutoren immer feinere digitale Hilfsmittel, in denen Wissen und Gespür von Experten so eingebunden sind, dass jedes Kind jene Impulse erhält, die es verdient und dauerhaft weiterbringt.

Unsere Gesellschaft braucht einen Kraftakt, bei dem sich alle Bildungsinteressierten gemeinsam dafür einsetzen, dass die „Corona-Generation“ nicht mut- und antriebslos auf der Strecke bleibt, sondern mit wachen und munteren Köpfen sich der Zukunft stellen kann. Schule, Unterricht und Lernen müssen komplett neu gedacht werden.

Welche Projekte und Vorhaben muss eine neue Regierung in Sachen Schule unbedingt angehen?

Die Modernisierung von Schule, Unterricht und Lernen muss auf eine Weise in Angriff genommen werden, bei der an die bestehenden Strukturen und auch Errungenschaften angeknüpft wird – um sie ebenso behutsam wie zielstrebig zu transformieren und damit zukunftsfähig zu machen. Die vielfältigen schönen neuen Möglichkeiten, die sich mit den digitalen Techniken eröffnen, sind nur so viel wert, wie sie Kindern hinsichtlich der Kernkompetenzen tatsächlich auf die Sprünge verhelfen.

Unterrichtsinhalte wie tradierte Unterrichtsstrukturen sind auf der inhaltlichen wie formalen Ebene so zu gestalten, dass Flexibilität und Problemlösungsfähigkeiten zur Maxime werden. Statt Lehrplanorientierung muss das exemplarische, gemeinschaftliche Erforschen und Studieren auf die Agenda gesetzt werden. Individuelle Begabungen, Förderbedarfe und Interessen müssen umfassend aufgehoben und angestachelt werden, um als Nährboden dafür zu dienen, den trotz aller Digitalisierungsprozesse notwendigen gesellschaftlichen Bedarf an menschlichem Input und kreativen Gestaltern abzudecken.

Welches Bildungsvorhaben und welche Bildungsstrategie ist unabdingbar?

Deutschland braucht eine Content-Strategie für seine Schulen, die weder auf Schulbüchern, die für einen gleichschrittigen Unterricht gedacht waren, basiert noch auf kostenlose OER (Open Educational Resources) setzt. Die enormen Ausstattungs Investitionen entfalten nur dann ihre Wirkung, wenn sie von adäquaten Investitionen in innovative inhaltliche Angebote, Konzepte und Fortbildungen begleitet werden. Prinzipiell muss die Modernisierung des Bildungswesens strikt von der inhaltlichen Seite her gedacht und auch angegangen werden.

Carmen Kindler – Rektorin an einer Grundschule

Was erwarte ich 2022 für die Bildung?

Meine klare Erwartung für 2022: dass Bildung nicht nur angeschoben wird über landesweite Projekte wie „Rü- ckenwind“ (Baden Württemberg), sondern dass Bildung insgesamt eine deutliche Stärkung erfährt. Die auf Bundesebene beschlossene Förderung des Ganztags muss in den Ländern und Kommunen ankommen: Die Antragstellung von Fördergeldern für den Ausbau von Ganztagsgrundschulen, auch in ländlichen Regionen und mit Rücksicht auf kleine Grundschulen, muss für Kommunen niederschwellig gehalten werden. Der künstliche Aufbau und die damit verbundene Erschwerung der Beantragung macht es für Kommunen vor Ort sehr mühsam, aktiv in die Beantragung von neuen Standorten einzusteigen.

Betreuungskonzepte vor Ort brauchen personelle und finanzielle Ressourcen und sind nicht ausschließlich auf den Schultern von Schulleitungen abzuladen. Vielmehr muss im Bewusstsein von Land und Kommune der Blick für die Bedürfnisse berufstätiger Eltern geweckt werden. Noch immer ist Ganztagesbetreuung „Privatsache“ in ländlichen Regionen. Hier kann und muss die neue Bundesregierung Weichen stellen für mehr soziale Gerechtigkeit bei der Verteilung von Ganztagesplätzen (im Hinblick auf den Rechtsanspruch auf Ganztag ab 2026), und gleichzeitig braucht es die „Manpower“ vor Ort an den kleinen Grundschulen, um dieses Angebot überhaupt vorhalten zu können. Der Wille zur Mitwirkung ist in der Gesellschaft durchaus gegeben; doch Länder und vor allen Dingen Kommunen müssen sich für ihre jeweiligen Strukturen vor Ort starkmachen und den Neuausbau von Ganztagesangeboten aktiv verfolgen.

Dafür braucht es vonseiten des Bundes eine stärkende und richtungsweisende Gesetzgebung, um berufstätige Eltern zu unterstützen und eine hochwertige Betreuungsleistung in Ganztagesangeboten vor Ort deutlich auszuweiten. Der Föderalismus in unserer Bundesrepublik ist hier bisweilen Hemmschuh, weshalb es eine klare Gesetzgebung auf Bundesebene braucht, um den Hemmschuh zur Antriebswelle zu verändern. Auch die Verlängerung der bundesweiten Fördermittel für den Ausbau von Ganztagesangeboten gilt es angesichts der neuen Ampelkoalition in den Blick zu nehmen. Hier sollte nicht im Vordergrund stehen, Fördermittel der Vorgängerregierung per se nicht verlängern zu wollen, sondern die schlichte Notwendigkeit der kommunalen Ausbauerfordernisse im Ganztag müssen hier gezielt weiterverfolgt werden.

Auch wichtig: die weitere Förderung mobiler und fest installierter Raumluftreinigungsgeräte.

Dr. Peter Klotzki – Hauptgeschäftsführer Bundesverband der Freien Berufe

Was erwarte ich 2022 für die Bildung?

Eine der größten Herausforderungen für die Bildung ist und bleibt der Fachkräftemangel, er ist unübersehbar und erlebbar. Von 15 Berufsgruppen, in denen der Nachwuchs besonders fehlt (Auswertung des Instituts der deutschen Wirtschaft vom 22. September 2021) sind alleine sechs Qualifikationen der freien Berufe. Und kurzfristige Besserung ist nicht in Sicht: Jahr für Jahr gehen dramatisch mehr Menschen in den Ruhestand, als es Schulabgänger gibt. Bildungspolitik muss also zum einen rechtzeitig und beherzt den erforderlichen Rahmen schaffen, damit Ausbilder und Auszubildende schneller und „passgenauer“ zueinanderfinden. Und zum anderen dem gegensteuern, dass bald jede/r zwölfte Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlässt und dann nur, wenn überhaupt, schwerer und aufwendiger auf dem Ausbildungsmarkt einfädelt.

Welche Projekte und Vorhaben muss eine neue Regierung in Sachen Schule unbedingt angehen?

Im Pflichtenheft steht die Digitalisierung ganz vorne.
Ein neuer Digitalpakt 2.0 für die Schulen mit einer Laufzeit bis 2030 wurde im neuen Koalitionsvertrag vereinbart. Vom bereits bestehenden Digitalpakt sind die Mittel nur zum Teil und viel zu langsam eingesetzt worden. Die Länder haben von den bereitgestellten 6,5 Milliarden Euro des „alten“ Digitalpakts bislang nur einen Bruchteil abgerufen. Eine der Folgen: Ein großer Teil der Lehrkräfte besitzt immer noch keinen Laptop. Untätigkeit der Kommunen, bürokratische Vorgaben und hohe Anschlusskosten werden als Gründe ins Feld geführt. Der neue Koalitionsvertrag will nun für eine unbürokratischere Handhabung/ Prüfung sorgen. Hier dürfen die Akteure nicht nachlassen, sondern müssen nachbessern.

Welches Bildungsvorhaben ist unabdingbar für deinen Berufsstand und/oder euren Verband?

In den freien Berufen arbeiten knapp 1,46 Millionen Selbstständige, die rund 4,2 Millionen Menschen beschäftigen, darunter rund 129.000 Auszubildende. Damit sind die freien Berufe der drittgrößte Ausbildungsbereich. Der Fachkräftemangel ist auch in und bei den freien Berufen angekommen. In einem Kraftakt aller an der Ausbildung Beteiligter konnte mit verschiedenen Aktionen, so der übergeordneten Kampagne „Sommer der Berufsausbildung“, die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge in den freien Berufen bis zum Stichtag 30. September 2021 gegenüber dem Vorjahreszeitpunkt um 9,9 Prozent und sogar um 2,5 Prozent gegenüber dem Vor-Corona-Niveau 2019 gesteigert werden. Wir müssen die berufliche Bildung stärken, und hierfür ist ein abgestimmtes Paket an Maßnahmen wichtig. Dazu gehören die Digitalisierung von Berufsschule und Prüfungen, auch im Einklang mit dem Onlinezugangsgesetz, die Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen und die Stärkung der Begabtenförderung in der beruflichen Bildung.

Es fehlt nicht an Ausbildungsplätzen – allein bei den freien Berufen gibt es laut Bundesagentur für Arbeit noch rund 5 000 Vakanzen, das sind gemeldete Stellen, die Dunkelziffer dürfte höher liegen. Vielmehr fehlen Interessenten. Der Zugang zur Ausbildung wird in der Allianz für Aus- und Weiterbildung, hier ist der BFB Partner, von Politik und Wirtschaft im Sinne einer „Chancengarantie“ mit konkreten betrieblichen Ausbildungsangeboten für alle Jugendlichen bereits seit 2013 gemeinsam gesichert. 2021 standen wie in den Vorjahren für vier Bewerber fünf betriebliche Ausbildungsangebote zur Verfügung. Deswegen läuft eine Ausbildungsgarantie, wie sie im Koalitionsvertrag steht, nicht nur ins Leere, sondern schadet der hohen freiwilligen Bereitschaft, auszubilden.