Unsere Expertin
Prof. Dr. Katharina Scheiter
ist Leiterin der Arbeitsgruppe Multiple Repräsentationen am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM).
Über das Leibnitz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation
Schule: Womit beschäftigen Sie sich an Ihrem Institut?
Scheiter: Am Leibniz-Institut für Wissensmedien beschäftigen wir uns mit der Frage, wie Menschen digitale Medien für den Wissenserwerb und für die Kommunikation von Wissen nutzen. Wir untersuchen ganz unterschiedliche Kontexte, wie z. B. den Arbeitsplatz, den Freizeitbereich und eben auch Bildungskontexte. Ich schaue mir speziell an, wie digitale Medien in der Schule genutzt werden und wie sie gestaltet sein müssen, damit sie lernwirksam sind. Des Weiteren untersuche ich, welche Kompetenzen Lehrkräfte brauchen, damit sie guten digitalen Unterricht durchführen können, und wie man diese Kompetenzen im Rahmen von Fortbildungen fördert.
Virtuelle Experimente
Sie beschäftigen sich im Rahmen Ihrer Forschung u. a. mit virtuellen Experimenten im naturwissenschaftlichen Unterricht. Was muss man sich darunter vorstellen?
Aus Ihrer Schulzeit kennen Sie wahrscheinlich Experimente, die man im Unterricht durchführt. Sogenannte Schülerexperimente bilden einen wesentlichen Bestandteil des forschenden Lernens im naturwissenschaftlichen Unterricht. Virtuelle Experimente sind eine Alternative bzw. Ergänzung zu realen Experimenten, bei denen Schülerinnen und Schüler mit physikalisch vorhandenen Materialien im Unterricht arbeiten.
Das heißt, ein virtuelles Experiment wird online am Computer oder am Tablet durchgeführt. Ich kann in einer Simulation, also in einem Nachbau eines real existierenden Experiments, Variablen, wie z. B. die Temperatur innerhalb eines Behälters, verändern und dann die Auswirkungen auf relevante Messgrößen, z. B. den Druck in diesem Behälter, beobachten. Häufig bieten virtuelle Experimente die Möglichkeit, diese Messwerte für ganz unterschiedliche Variablenkonstellationen automatisch digital aufzuzeichnen und dann in Tabellen oder Graphen darzustellen.
Warum sollte man im Unterricht mit solchen virtuellen Experimenten arbeiten?
Der Vorteil solcher virtueller Experimente ist, dass ich mit ganz unterschiedlichen Variablenkonstellationen arbeiten kann, und das in kürzerer Zeit als im Unterricht sonst möglich. Der aufwendige Aufbau eines Experimentes fällt weg, und es müssen keine z. T. kostspieligen Materialien verwendet werden. Virtuell können auch Materialien verwendet werden, die im Unterricht gar nicht verwendet werden dürften, weil die Nutzung zu gefährlich wäre. Ich habe also eine Erweiterung des Erkenntnisraums für Schülerinnen und Schüler.
Darüber hinaus ist es auch so, dass bei den virtuellen Experimenten das Phänomen nicht nur auf einer konkret beobachtbaren Ebene, sondern oft auch auf einer abstrakten nicht beobachtbaren Ebene, der sogenannten Modelebene, dargestellt wird. So können Schülerinnen und Schüler auch lernen, ihre Beobachtungen vor dem Hintergrund eines physikalischen oder auch chemischen Modells zu deuten, beispielsweise dem Teilchenmodell.
Wenn ich mich an meine Zeit im Chemieunterricht erinnere, dann haben wir häufig Reagenzgläser und Flüssigkeiten bekommen. Wir mussten dann z. B. die eine Flüssigkeit in die andere tröpfeln und Veränderungen beobachten. Solche Experimente führt man mit allen Sinnen durch. Man tastet, riecht, sieht, hört und manchmal schmeckt man sogar. Bei einem virtuellen Experiment fallen einige dieser Sinneswahrnehmungen weg. Wie reagieren Kolleginnen und Kollegen darauf?
Was bei den virtuellen Experimenten tatsächlich fehlt, ist das sogenannte haptische Feedback, welches man bei realen Experimenten hat. Außerdem übt man nicht ein, wie ein Experiment aufgebaut wird und wie man z. B. mit chemischen Materialien richtig um geht. Diese Tatsache erzeugt immer eine gewisse Skepsis bei Lehrkräften.
Dazu kann man zwei Dinge sagen: Erstens, wenn wir uns jetzt nur auf das konzeptionelle Verständnis von Schülerinnen und Schülern konzentrieren, dann wissen wir aus der Forschung, dass es für den Lernerfolg tatsächlich keinen Unterschied macht, ob wir mit virtuellen oder realen Experimenten arbeiten. Das irritiert manche Personen immer wieder, aber es gibt tatsächlich keine Hinweise, dass das eine oder andere überlegen ist.
Es ist aber auch so, dass ich in meiner Arbeitsgruppe vor dem Hintergrund der Forschung dafür argumentiere, sowohl virtuelle als auch reale Experimente durchzuführen. Es geht eben nicht darum, das eine oder das andere zu machen, sondern man sollte sinnvolle Kombinationen aus beiden finden, das Beste aus beiden Welten.
Wir haben uns dazu die Forschungsliteratur angesehen, und man erkennt sehr deutlich, dass diese Kombination aus realen und virtuellen Experimenten der alleinigen Nutzung von nur einer Experimentierform deutlich überlegen ist. Das liegt daran, dass die Vorteile des realen Experimentes, z. B. des haptischen Feedbacks, mit den erweiterten Erkenntnismöglichkeiten der virtuellen Experimente verknüpft werden.
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Virtual Reality als Lernhilfe
Es gibt inzwischen Experimente, die in einer dreidimensionalen virtuellen Realität durchgeführt werden können. Macht es einen Unterschied, ob ich Experimente mit einem Tablet in 2-D oder Experimente mit einer Virtual-Reality-Brille in 3-D durchführe?
Tatsächlich wissen wir das noch nicht genau. Wir fangen gerade zusammen mit Prof. Dr. Jochen Kuhn von der TU Kaiserslautern an, genau solche Experimente bzw. solche Studien durchzuführen. Dort vergleichen wir diese verschiedenen Varianten.
Das klassische Argument für Virtual Reality, also das Arbeiten in einem dreidimensionalen Raum, ist, dass die Ähnlichkeit zu dem realen Experiment wesentlich höher ist. Man arbeitet zwar virtuell, interagiert aber trotzdem mit Objekten und bekommt einen Eindruck von der Umgebung. Allerdings ist das Arbeiten in der virtuellen Realität für Schülerinnen und Schüler z. T. sehr aufwendig. Zunächst müssen sie sich in ihr zurechtfinden und darin interagieren. Die technische Umsetzung ist aktuell noch nicht so gut, wie wir es gerne hätten. Daher ist es tatsächlich eine offene Frage, ob Virtual Reality oder Experimente in 2-D besser sind.
Viele Schulfächer können profitieren
Gibt es ein naturwissenschaftliches Fach, wie z. B. Physik, Biologie oder Chemie, das sich besonders für diese virtuellen Experimente anbietet?
Wir haben es uns für alle drei Fächer genauer angesehen. Virtuelle Experimente findet man vor allem im Fach Physik. Das muss aber nicht bedeuten, dass sie hauptsächlich für dieses Fach geeignet sind. Ich finde, dass virtuelle Experimente in den Fächern unterschiedliche Vorteile bieten. In der Biologie habe ich es häufig gar nicht mit kurzzeitigen Experimenten zu tun, sondern eher mit langfristigen Beobachtungen von natürlichen Experimenten. Ein Beispiel wäre die Räuber-Beute-Beziehung. Hier stellt man sich die Frage, wie sich die Anzahl an Beutetieren und Raubtieren mittel- und langfristig entwickelt. In solchen Fällen gibt es eine ganz andere Argumentation für digitale Experimente. Es geht darum, dass Schülerinnen und Schüler diese Veränderungen in der Natur gar nicht beobachten können, weil diese Prozesse viel zu langsam ablaufen.
In der Chemie spielt die Argumentation eine Rolle, dass ich Experimente durchführen kann, die im Schulkontext sonst gar nicht durchgeführt werden könnten, und man dadurch die Erweiterung des Erkenntnisraums hat. Argumente sind je nach Fach unterschiedlich. Es gibt aber in jedem Fach gute Argumente, virtuelle Experimente einzusetzen.
Sind virtuelle Experimente nur für naturwissenschaftliche Fächer geeignet oder auch für gesellschaftswissenschaftliche Fächer wie z.B. Wirtschaft oder Politik?
Tatsächlich kommt ein Großteil der Forschung aus diesem Bereich. Wirtschaftssimulationen hat es schon in den 80er-Jahren gegeben. Hier konnten Simulationen helfen, wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, die für Menschen zunächst nur schwer nachvollziehbar sind.
Virtuelle Experimente kennenlernen
Wo findet man virtuelle Experimente, um diese einmal auszuprobieren?
Vonseiten der klassischen Anbieter, wie z. B. Schulbuchverlage, gibt es noch relativ wenig. Für Physik gibt es z. B. die Plattform „LEIFIphysik“ und für Chemie „LEIFIchemie„. Beides sind Angebote der Joachim Herz Stiftung. Hier werden Unterrichtsmaterialien und auch virtuelle Experimente für die Fächer zur Verfügung gestellt. Eine weitere große Plattform ist Golabz.eu. Dort gibt es nicht nur virtuelle Experimente, sondern ganze, nachgebaute virtuelle Labore, in denen man ganz unterschiedliche Experimente durchführen kann. Dies ist ein sehr gutes Angebot, welches viele Lehrkräfte noch gar nicht kennen. Es stammt aus einem Forschungskontext. Daher sind die virtuellen Experimente dort gut erforscht, und ihre Lernwirksamkeit ist belegt.
Die Digitalisierung der Schule im Vergleich
Werden virtuelle Experimente international schon häufiger in den Unterricht eingebunden als in Deutschland?
Generell gilt im Bereich der Digitalisierung in Schulen: Wir sind hinterher. Tatsächlich werden virtuelle Experimente in anderen Ländern, wie z. B. in skandinavischen Ländern oder in Großbritannien, wesentlich häufiger eingesetzt. Teilweise aus ganz trivialen Gründen, wie z. B. Kosten- oder Sicherheitsgründen. Wir haben vor einigen Jahren eine Umfrage zu diesem Thema in Deutschland durchgeführt und gefragt, wie oft virtuelle Experimente im Unterricht genutzt werden, und erkannt, dass dies sehr selten der Fall ist. Das lag damals aber auch am Angebot.
Ist die Zukunft der Schule digital?
Wie wird Schule Ihrer Meinung nach in zehn Jahren aussehen?
Ich würde mir wünschen, dass die realen Experimente noch immer eine Rolle spielen. Sinnvoller Einsatz von digitalen Medien in der Schule bedeutet, dass man analoges Lernen mit mediengestütztem Lernen kombiniert. Ich glaube nicht, dass wir in zehn Jahren im Unterricht nur noch vor den Rechnern sitzen und alles virtuell bearbeiten. Der Anteil an Simulationen und virtuellen Experimenten wird aber deutlich zunehmen.
WEITER HÖREN
Das ganze Interview mit Prof. Dr. Scheiter und weitere Folgen der „Doppelstunde“ können Sie im Podcast von „news4teachers“ unter news4teachers.buzzsprout.com hören.