Bildung definieren: Was genau ist eigentlich Bildung?

Ein Ausflug in die Ideengeschichte hilft ein wenig weiter – aber für die heutige Zeitenwende fällt die Antwort komplizierter aus.

Was heißt Bildung heute? Über Bildung lässt sich wunderbar diskutieren. Dabei herrscht landläufig die Meinung, wer in der Schule und neuerdings auch im Kindergarten recht viel lernt, aus dem wird ein gebildeter Mensch. Der Erwerb von wertvollem Wissen gilt als mühsam. Nur, was mit Schweiß und Tränen eingetrichtert wurde, scheint bedeutend. Insofern konnte die Schlussfolgerung aus den schwachen Ergebnissen der sogenannten PISA-Studie zur Jahrtausendwende auch nur lauten, dass die Kinder eben nicht genug gelernt hätten. Bildung landläug gesehen Hand aufs Herz! Vielerorts ist das die landläufige Meinung, wenn es um Bildung und Schule geht. Dabei hat schon Titus Petronius im alten Rom geklagt, dass die Jugend in den Schulen verdummen würde, weil sie nichts von dem zu hören bekäme, was sie im Alltag brauche. Das ist 2000 Jahre her. Dass sich daran nicht viel geändert hat, zeigen etwa die kritischen Äußerungen des Philosophen Richard David Precht. Für ihn hat der Schulbetrieb nur wenig mit sinnvoller, zukunftsgerichteter Vermittlung von Bildung zu tun.

Auch dass sich Bildung nicht eintrichtern lässt, ist schon länger bekannt. „Lehren heißt, ein Feuer entfachen, und nicht einen leeren Eimer füllen“, schrieb vor 2500 Jahren der griechische Philosoph Heraklit. Eine Erkenntnis, die heute durch die Hirnforschung längst belegt ist. Was aus uns werden könnte. Warum handeln wir dann trotz besseren Wissens anders und reden über Bildung, als gälte es, einen störrischen Esel zur Futterkrippe zu zerren? Die Antwort lautet ganz einfach: „Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht!“ Schließlich haben nur wenige von uns einen Bildungsprozess erlebt, wie er nach allen Erkenntnissen sinnvoll wäre. Der bekannte Hirnforscher Gerald Hüther betont in seinen Vorträgen immer wieder, dass wir uns nicht damit trösten sollten, dass aus uns doch auch etwas geworden wäre. Viel wesentlicher sei die Frage, was aus uns hätte werden können. Angesichts der enormen Probleme, vor denen die Menschheit heute steht, erscheint diese Frage noch viel dringlicher.

Was bedeutet Bildung heute? Muss Schule liefern? Um das zu beantworten, ist es naheliegend, in einer „Leistungsgesellschaft“ von den Aufgaben her zu denken. Ganz abgesehen davon, dass ein gebildeter Mensch schon dem widersprechen würde, dass wir es hierzulande mit einer„Leistungsgesellschaft“ zu tun haben, zeigt sich bereits nach den ersten Versuchen, dass sich der Bildungsbegriff von Seiten der Anforderungen her gar nicht wirklich erschließen lässt. Ein beliebtes Argument ist, dass die Schule das abliefern müsse, womit „die Wirtschaft“ etwas anfangen könne.

Dazu hat unter anderem die Kultusministerkonferenz (KMK) die Bildungsstandards formuliert. Deutsch und Mathematik sind mit dabei, später die erste Fremdsprache. Naturwissenschaften wie Biologie und Physik kommen hinzu. Reicht das? „Natürlich nicht“, antworten etwa die Verfechter der digitalen Bildung und fordern mittlerweile schon einen DigitalPakt Kita. „Natürlich nicht“, werden die Demokraten in unserem Land sagen. Schließlich braucht eine Demokratie mündige Bürger. „Natürlich nicht“, behaupten die Pädagogen, die danach fragen, wo denn der Mensch bei all dem bleibe. Bildung beginnt beim Fötus. Bevor wir nun weiter diesem Irrweg folgen, müssen wir uns weiter in die Tiefe des menschlichen Seins begeben. Denn wer Bildung richtig vorantreiben möchte, darf nicht vergessen, dass er es mit lebendigen Wesen und ihren Eigenheiten zu tun hat.

Dabei hilft es, sich klarzumachen, dass das Wort Bildung vom althochdeutschen Wort „bildunga“ kommt, was in etwa so viel bedeutet wie Vorstellung oder Vorstellungskraft. Je größer die Bildung, desto größer ist die Vorstellungskraft von den Zusammenhängen der Dinge dieser Welt. Damit beginnt Bildung schon beim Fötus im Mutterleib. Vom Streben nach Erkenntnis. Von da ab strebt der Mensch nach Erkenntnis und damit der Entwicklung seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten. Schließlich geht es darum, sich im Leben zurechtzufinden und erfolgreich zu sein. Erfolg bedeutet, sein eigenes Leben in die Hand nehmen und gestalten. Spätestens ab seiner Geburt gestaltet ein Kind sein eigenes Bildungsprogramm. Auch das ist wissenschaftlich belegt und seit der Antike bekannt. Das Kind beginnt, sich die Welt anzueignen. Die größte Gefahr bei diesem Entwicklungsprozess besteht darin, dass wir es dabei stören, statt es darin zu unterstützen. Schon die chinesischen Weisen Konfuzius und Laotse kannten den Weg und wurden durch ein Heer von Pädagogen, Psychologen und Naturwissenschaftlern bestätigt. Warum wir es dennoch anders angehen, hat damit zu tun, dass wir versuchen, Kinder uns und unserem fiktiven Bild von Welt anzupassen. Und oftmals kommt noch ein ordentliches Stück Unverständnis und Faulheit hinzu.

Der Ausgangspunkt ist der Mensch. Ein erfolgreiches Bildungssystem muss deshalb immer das Individuum verstehen und ernst nehmen. Wer das nicht versteht, dem sei der Ausspruch eines Genies wie Albert Einstein ans Herz gelegt: „Jeder ist ein Genie! Aber wenn du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, dass er dumm ist.“Leider läuft unser Bildungssystem vom Tage unserer Geburt an in weiten Teilen in diese Richtung. Dabei steckt die Begeisterung für die Zusammenhänge dieser Welt tief ins uns. „Es ist deshalb nötig, dass wir dem Kind die Möglichkeit geben, sich in Übereinstimmung mit den Gesetzen seiner Natur so zu entwickeln, dass es stark werden kann und, wenn es stark geworden ist, sogar noch mehr tun kann, als wir zu hoffen gewagt haben“, schreibt Maria Montessori. „Denn nur für das, was einem Menschen wichtig ist, kann er sich auch begeistern, und nur wenn sich ein Mensch sich für etwas begeistert, werden all jene Netzwerke ausgebaut und verbessert, die der betreffende Mensch in diesem Zustand der Begeisterung nutzt. Zwanzig- bis fünfzigmal am Tag erlebt ein Kleinkind diesen Zustand. Jeder dieser kleinen Begeisterungsstürme führt gewissermaßen dazu, dass im Hirn die Gießkanne mit dem Dünger angestellt wird, der für alle Wachstums- und Umbauprozesse von neuronalen Netzwerken gebraucht wird“, erklärt Hünther den inneren Bildungsprozess, durch den etwa der so wichtige Forschergeist in uns geweckt wird. „Alle Bildung ist Selbstbildung“, stellte einst Edith Stein fest. Und Maria Montessori vermutete, wenn wir unseren Kindern vertrauen und sie sich entfalten lassen würden, könnte da raus einst eine bessere Welt entstehen.

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Wir wissen nicht, was die Zukunft eines Tages von unseren Kindern abverlangen wird. Der Pädagoge Jean-Jacques Rousseau äußerte sein Unverständnis für jene, die ihre Kinder für eine Zukunft quälten, die sie doch gar nicht kennen. Es geht darum, Bildung so zu entwickeln, dass der Mensch jeweils seine Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt, damit die Gesellschaft als Ganzes das Handwerkszeug in Händen hält, mit dem sie die schwierige Zukunft gestalten kann. „Wo deine Gaben liegen, da liegen deine Aufgaben“, sagt ein altes deutsches Sprichwort. Wir brauchen heute kein Heer an Industriearbeitern mehr, alle mit gleichen Fähigkeiten. Wir brauchen Menschen, die mit ihren Fähigkeiten die Herausforderungen der Zukunft meistern.

Der Philosoph Hans Lenk nennt dafür zwölf Bildungsziele: Kreativität, Flexibilität, Selbsterkenntnis, Selbstwertbewusstsein, Führungsfähigkeit, Sachlichkeit, Zielstrebigkeit, interdisziplinäre Offenheit, generalistisches Interesse, Fortschrittsorientierung, Zivilcourage, Grundwertorientierung. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki nennt drei Fähigkeiten: Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit, Solidaritätsfähigkeit.

Bildung braucht einen Sinn. Und wo bleiben dabei Deutsch und Mathematik? Menschen haben Sprache, Schrift und Zahlen entwickelt, um miteinander umgehen zu können. Neugierige, soziale junge Menschen werden sich das deshalb aneignen. „Die Bildung wird täglich geringer, weil die Hast größer wird“, klagte einst Friedrich Nietzsche. In diese Klage stimmen heute viele Eltern, Pädagog*innen und Lehrer*innen ein. Angesichts der hohen Lebenserwartung und in so einem reichen Land sollte es keinen Druck mehr geben. Vertrauen wir also dem inneren Bildungsmotor unserer Kinder und unterstützen sie. 

TEXT: GERNOT KÖRNER

GERNOT KÖRNER, FACHREDAKTEUR Verleger von Oberstebrink, Burckhardt haus und spielen-und-lernen.online. Als Fach berater hält er Workshops zum Thema Spielen für PädagogInnen