Lernen mit digitalen Medien: 10 Fragen an einen Experten

Die Schule ist eine digitale Baustelle: Wir besprechen zehn Fragen und Überlegungen zum Lernen mit digitalen Medien mit dem Berliner Medienexperten Thomas Feibel.

Richtig eingesetzt, kann das Lernen mit digitalen Medien bereichernd sein. Foto: Getty Images/Complexio

Kaum etwas hat unser Leben so verändert wie das digitale Zeitalter. Nicht immer haben die Schulen hier eine gute Figur gemacht. Dabei sollen sie schließlich unsere Kinder zukunftsfähig machen. Doch auf die durchaus berechtigte Frage, wie gut die Schule den Anschluss in die Digitalwelt schafft, liefern manche Behörden nur sehr dürftige Lösungen: Jede Lehrkraft soll eine eigene E-Mail-Adresse und ein Notebook bekommen. Nun erhielt die Diskussion um Technik und Medienkompetenz in der Schule ausgerechnet durch eine Pandemie starken Auftrieb. In Corona-Zeiten war plötzlich vieles möglich, das zuvor noch als vollkommen undenkbar galt. Homeschooling zum Beispiel.

Wie weit die digitalen Ambitionen heute in diesen Institutionen vorangehen, fällt in jeder Kommune und in jedem Bundesland anders aus und ist darum nur schwer messbar. Fakt ist aber auch, dass es Schule in digitalen Belangen in der Vergangenheit noch nie leicht hatte und es immer noch sehr schwer hat. Gerne wird dann nach einem Schuldigen gesucht. Eltern machen dann in der Regel die Lehrkräfte dafür verantwortlich.

1. Tun sich Lehrerinnen und Lehrer wirklich mit der Digitalwelt so schwer?

Wenn es um digitale Themen ging, wurde noch vor wenigen Jahren den Lehrkräften die Rolle des Buhmanns zugewiesen. Sie seien, so lauteten die Vorurteile, überalterte, festgefahrene Technologiemuffel. Wer vor 20-25 Jahren Fortbildungen in dieser Berufsgruppe durchgeführt hatte, konnte da einen gewissen Wahrheitsgehalt nur schwer verleugnen. Tatsächlich gab es lange Zeit einen großen Teil in dieser Berufsgruppe, der der Meinung war, dass sie das alles nichts mehr anginge. Doch heute ist in den Weiterbildungen der stumme Widerstand dem starken Wunsch nach Orientierung und guten Einsatzmöglichkeiten gewichen. Denn längst hat sich in der Gesellschaft der Rechner zu Hause als nützliches Werkzeug etabliert. Auch sorgten Smartphones und Tablets mit ihren deutlich vereinfachten Funktionen für eine größere Akzeptanz der digitalen Medien. Wie wir alle wissen, kann zum Beispiel ohne Smartphone und Computer kaum noch eine Banküberweisung getätigt werden. Der wahre Kern des Problems liegt eher in der Infrastruktur.

2. Müssen die Schulen entlastet werden, wo es um Digitalisierung geht?

Ja. Wenn es wirklich mehr Technologie im Unterricht geben soll, müssen wir zuallererst Schule und Lehrkräfte entlasten. Wie kann es sein, dass sich in jeder kleinen Firma der freien Wirtschaft eine IT-Abteilung um die technischen Belange kümmert, aber in den meisten Schulen ein Lehrer oder eine Lehrerin dafür zuständig ist? Sollten sich die pädagogischen Fachkräfte nicht eher in Ruhe auf die Vermittlung des Lernstoffs konzentrieren, anstatt sich mit nicht funktionierenden Netzwerken und Smartboards herumzuschlagen? Sicher, in einigen Fällen ist manchmal die städtische IT zuständig. Aber was nützt das, wenn nur zwei IT-Kräfte für alle Schulen der Stadt zuständig sind? Der Fisch stinkt immer vom Kopf. Städte und Gemeinden müssen dringend umdenken. Dann kann gemeinsam überlegt werden, welche Technik und Software zum Einsatz kommen sollen.

3. Was kann eine digitale Lernsoftware?

Schon immer war der Begriff Lernsoftware irreführend. Denn einerseits suggeriert er, dass Schülerinnen und Schüler damit wirklich etwas „lernen“ könnten. Tatsächlich vermittelt aber der überwiegende Teil dieser Programme kein Wissen im klassischen Sinne, sondern ist mehr als reine Übungssoftware zu verstehen. Ganz gleich, ob es um Rechnen, Rechtschreibung und Grammatik oder Vokabeltraining geht.

Andererseits trug der Terminus „Lernsoftware“ lange dazu bei, dass viele Eltern dem Irrglauben aufsaßen, Lernprogramme würden zu einer automatischen Verbesserung der Schulnote führen. Das ist natürlich Unsinn.

Und die Kinder selbst? Noch vor wenigen Jahren reagierten sie sehr unwillig auf Lernsoftware. Das lag vor allem an der erzieherischen Prämisse der Eltern: Der Nachwuchs durfte nur an den Computer, wenn er daran auch etwas „Sinnvolles“ machte. Heute haben Schülerinnen und Schüler eigene Geräte und sind viel pragmatischer. Sie nutzen zum Üben alles, was ihnen nützt. Die Übungssoftware ist geduldig, und der Stoff kann beliebig oft wiederholt werden. Sie ist allerdings nicht dazu in der Lage, Blockaden aufzulösen. Das können aber NachhilfelehrerInnen sehr gut.

4. Was ist mit digitaler Nachhilfe?

Der digitale Lernmarkt hat sich stark verändert. Noch vor wenigen Jahren wurde der sogenannte „Nachmittagsmarkt“ mit unzähligen CD-ROM-Lerntiteln überflutet. Heute haben diese Angebote deutlich abgenommen. Inzwischen haben Lern-Apps dieses Feld eingenommen, allerdings fällt die Auswahl deutlich eingeschränkter aus. Das mag vor allem daran liegen, dass Apps mit ihren niedrigen Preisen nur selten die Entwicklungskosten wieder einspielen. Erfolgreiche Apps funktionieren international – das ist mit deutschen Lerntiteln nicht zu schaffen.

Auch offizielle Nachhilfe-Portale mit Abosystemen tun sich auf dem Markt schwer. Längst sind Eltern die Kostenlos-Mentalität des Internets gewohnt und halten daran fest.

Und gerade im Netz und in App-Stores gibt es sehr gute Gratis-Alternativen zu den Abo-Portalen. Angebote wie zum Beispiel die App „Anton“. Wenn Schülerinnen und Schüler zudem einen bestimmten Sachverhalt im Unterricht nicht verstanden haben, nutzen sie YouTube als Suchmaschine für Erklärfilme. Oft finden sie Videos, in denen die Thematik von Gleichaltrigen so erläutert wird, dass sie von der Zielgruppe verstanden werden kann. Auch einige professionelle Lehrkräfte haben auf YouTube eigene, sehr erfolgreiche Kanäle mit beeindruckenden Klickzahlen. Die Erläuterungen können zu Hause beliebig oft und ohne Zeitdruck wiederholt werden.

5. Was ist eigentlich das Problem mit Homeschooling?

In der Pandemie wurde das Homeschooling zum großen Thema. Die wichtigste Lehre, die sich für viele Eltern daraus ziehen lässt: Homeschooling und Homeoffice zur gleichen Zeit funktioniert nicht. Dennoch haben sich alle große Mühe gegeben: die Kinder, die Eltern, die Lehrkräfte. Und trotzdem ist dabei etwas sehr Wichtiges auf der Strecke geblieben: die Medienkompetenz. Im Sauerland mussten manche Eltern morgens zur Schule fahren und am Fenster die Aufgaben des Tages für ihre Kinder abholen.

In anderen Bundesländern kamen Zehn- und Zwölfjährige mit den verästelten Datenbankstrukturen nicht zurecht, um ihre Arbeitsblätter herunterzuladen. Und Zweitklässler sollten ihre Aufgaben ausdrucken, hatten aber noch nie in ihrem Leben zuvor einen Drucker bedient. Viele Kinder, die im Zeitalter der Smartphones und Tablets aufwachsen, wissen noch nicht einmal, wie ein Computer hoch- oder heruntergefahren wird. Pardon, aber sind das nicht eigentlich die primären Grundlagen der Medienkompetenz?

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6. Was ist eigentlich mit der Medienkompetenz?

Das Erlernen des guten und gesunden Umgangs mit Smartphones, Tablets, Computern und dem Internet ist heute so wichtig wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Dabei geht es um verschiedene Kompetenzen, unter anderem um:

Technik: Die technischen Grundlagen sind als Fundament besonders wichtig, um souverän, sorgsam und zielführend mit den Geräten umgehen zu können.

Lesekompetenz: Jedes Medium bedarf einer eigenen Lesefähigkeit. Wer weiß, wie man Bücher, Magazine und Filme rezipiert, kommt mit dieser Fertigkeit bei einem Spiel wie „Among Us“ nicht unbedingt weiter. Games bedürfen einer ganz eigenen Lesefähigkeit. Dass Lesen dann auch im Sinne des Deutens zu verstehen ist, ist bei der Nutzung des Internets besonders wichtig. Denn hier müssen die Funde – anders als in Lexika – beständig kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt hinterfragt werden.

Kommunikation: Die Kommunikation über Messenger wie WhatsApp ist knapp, rasch und direkt. Da kann der Ton schon schnell rau werden und noch schneller zu Missverständnissen führen. Außerdem sollte hier auch zwischen innerer und äußerer Kommunikation unterschieden werden: Liest nur eine Person den Text oder sind die Zeilen öffentlich und andere lesen stets mit? Das ist ein Riesenunterschied.

Schutz: In diesem Zusammenhang wird gerne von Datenschutz gesprochen. Das ist darum so ein besonders heikles Thema, weil wir Erwachsenen oft keine befriedigenden Lösungen kennen. Bis heute haben wir selbst keine Idee, wie wir uns gegen das Ausspionieren durch die Angebote im Internet zur Wehr setzen sollen. Das Thema Schutz umfasst aber auch noch den Schutz der Geräte, den Schutz vor Abzocke und den Schutz vor Fremden, die das Internet und Games nutzen, um sich mit pädophilen Absichten an Kinder heranzumachen.

7. Sind die Schüler:innen in technischen Belangen den Erwachsenen wirklich voraus?

Bedauerlicherweise lautet die landläufige Meinung immer noch, dass Kinder in digitalen Angelegenheiten den Erwachsenen und Lehrkräften weit überlegen sind. Das ist ein großes Missverständnis. Natürlich entspricht es schon der Wahrheit, dass sich Heranwachsende schneller und müheloser Zugang zu Geräten, Funktionen und digitalen Angeboten verschaffen. Das geht aber nur als reine Technikkompetenz durch. Meist können Kinder und Jugendliche die Folgen ihres Handelns im Netz nicht einschätzen. Darum schlägt ein vermeintlicher Scherz rasch zum handfesten Cybermobbing um. Meistens mit fatalen Folgen für Opfer und TäterIn. Sie brauchen uns Erwachsene, damit wir ihnen helfen können, ihre Handlungen einzuordnen. Allgemein läuft auch das unter dem Begriff Medienkompetenz.

8. Wer ist eigentlich für die Vermittlung von Medienkompetenz zuständig?

Bei Fortbildungen der Lehrkräfte verweisen sie bei diesem wichtigen Thema bevorzugt auf die Eltern. Doch auf Elternabenden wiederum machen die Erziehenden gerne deutlich, dass dies eigentlich Aufgabe der Schule sei. Die Wahrheit liegt natürlich in der Mitte. Nur wird in dieser Diskussion eine weitere Bildungsinstitution oft übersehen: die Bibliothek.

Öffentliche Bibliotheken zählen heute zum wichtigsten Wissensvermittler von Medienkompetenz. Die Bibliotheken haben den Ort, die Technik und das Personal, das sich mit den verschiedenen Formen der Medienkompetenz bestens auskennt. In vielen Einrichtungen gibt es zum Beispiel 3-D-Drucker und Robotikangebote. Auch zeigen hier Profis, wie Recherche richtig geht. Darum könnten technisch und personell gut ausgestattete Schulbibliotheken wichtige Lücken in der Schullandschaft schließen.

9. Sind Smartphone-Verbote bei gleichzeitiger Digitalisierung an der Schule noch zeitgemäss?

Ein oft gelebter Widerspruch in Schulen ist das Smartphone-Verbot. Diese Einschränkung soll unter anderem Cybermobbing oder das heimliche Abfilmen von Lehrkräften unterbinden. Aber ist das überhaupt sinnvoll, wenn Zuwiderhandlungen nur halbherzig geahndet werden?

Gleichzeitig sollen aber Schulklassen für Absprachen zum Beispiel eine WhatsApp-Gruppe gründen. Das kann nicht funktionieren. Es passiert, was passieren muss, wenn wir Kinder damit alleine lassen und keine verbindlichen Regeln aufstellen: Hunderte Nachrichten kommen über Nacht, darunter auch Beschimpfungen und Beleidigungen. Um diese Probleme zu vermeiden, handhaben es einige Schulen inzwischen so: In einer WhatsApp-Gruppe der 5. Klasse lesen zwei Siebtklässler als „Sheriffs“ mit und greifen notfalls ein.

In immer mehr Schulen gibt es jedoch ein weiteres, beachtenswertes Modell: Das Smartphone ist dort im Unterricht erlaubt, wenn die Lehrkraft das zulässt. Etwa, um etwas nachschlagen oder ein Experiment dokumentieren zu können. In den Pausen bleibt das Smartphone aber weiterhin verboten.

10. Wie sieht ein guter Umgang mit dem Smartphone in der Schule aus?

Das lässt sich leicht beantworten, indem die Schule gemeinsam mit SchülerInnen und Eltern eine digitale Schulordnung entwickelt. Dann können auch gleich die entsprechenden Geräte genutzt werden, um diese Regeln als Fotoroman, Plakat oder Film umzusetzen. Dabei kann auch direkt darüber gesprochen werden, was mit Fotos erlaubt ist und was nicht. Schülerinnen und Schüler halten sich generell eher an Vereinbarungen, an denen sie aktiv beteiligt waren. Zudem sind sie offener für medienpädagogische Hinweise, wenn nicht nur theoretisch darüber gesprochen wird, sondern es auch in ein handfestes Ziel wie die digitale Schulordnung mündet. Darin können auch Sanktionen und andere Konsequenzen thematisiert werden.

Fazit

In digitalen Dingen ist die Schule so gut unterwegs wie nie zuvor. Sie braucht aber eine bessere Infrastruktur. Achten wir darauf, dass Veränderungen nicht industriegetrieben, sondern viel mehr pädagogisch getrieben sind. Mit einer digitalen Schulordnung, die unter Beteiligung der Schülerinnen und Schüler entsteht, kann der gemeinsame Lernalltag in der Schule geregelt werden.

Thomas Feibel 

(Jahrgang 1962) ist der führende Journalist zum Thema „Kinder und Digitales“ in Deutschland.

Er leitet das „Büro für Kindermedien“ (www.feibel.de) in Berlin und publiziert u. a. in „Der Spiegel“, „c’t“ und arbeitet auch für Hörfunk und Fernsehen.

Er schreibt Sachbücher („Jetzt pack doch mal das Handy weg“, Ullstein) hält viele Vorträge, gibt Workshops und hat zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht.

2014 wurde er von Bibliothek & Information Deutschland (BID) für seine Arbeit zur Leseförderung und Vermittlung elektronischer Medien für Kinder und Jugendliche mit der Karl-Preusker-Medaille ausgezeichnet.